Allgemeinärztin Kristina Hänel wurde von selbsternannten Abtreibungsgegnern angezeigt, da sie Informationen zum Schwangerschaftsabbruch bereitstellte. Bild: IMAGO / epd
Interview
15.12.2021, 10:3415.12.2021, 13:33
Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung sind viele gesellschaftspolitische Neuerungen festgeschrieben. Unter anderem die Streichung eines Paragrafen, gegen den viele Menschen – Ärztinnen, Angestellte in Beratungsstellen, Aktivistinnen – schon lange protestieren. Die Rede ist von Paragraf 219a, der die sogenannte "Werbung für Schwangerschaftsabbrüche" regelt.
Selbsternannte "Lebensschützer" nutzten dieses Gesetz, um hunderte von Ärztinnen und Ärzte anzuzeigen, die auf ihrer Webseite Informationen über den Eingriff bereitstellten. Denn auch das konnte vor dem Gesetz als "werben" gewertet werden.
So ging es auch der Allgemeinmedizinerin Kristina Hänel. Sie betreibt eine Praxis im hessischen Gießen. Auf ihrer Homepage informierte sie darüber, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt – und wurde deswegen angezeigt. Doch sie wehrte sich vor Gericht und somit wurde ihr Fall deutschlandweit bekannt.
Im Interview mit watson spricht Kristina Hänel über die Protestbewegung und welche Probleme sie immer noch in der aktuellen Gesetzgebung sieht.
watson: Was halten Sie von der geplanten Abschaffung des Paragrafen 219a?
Kristina Hänel: Ich habe mich jahrelang für die Informationsfreiheit für Frauen zum Schwangerschaftsabbruch eingesetzt und ich freue mich darüber, dass der Paragraf jetzt endlich gestrichen wird.
Was ändert sich nun für Ärzte?
Für uns Ärztinnen und Ärzte ändert sich, dass wir Informationen über einen Eingriff, den wir vornehmen, öffentlich machen können, wie für jeden anderen Eingriff auch. 2005 kamen die ersten Anzeigen, davor hat das Thema die Öffentlichkeit nicht wirklich interessiert. Seit mehr als 15 Jahren dauert diese unklare Situation also bereits an, in der man nie wusste, wie, wo und was man sagen darf. Ein Beispiel: Ich habe einen Artikel zum Thema Schwangerschaftsabbruch in einer Fachzeitschrift veröffentlicht. Darf ich diesen Artikel dann auf meine Homepage stellen? Das kann mir niemand beantworten. Dass diese immer noch bestehende Rechtsunsicherheit nun aufhören soll, nimmt viel Druck raus.
Wieso hat es mit den Strafanzeigen ab 2005 angefangen?
Das ist eine Taktik der sogenannten "Abtreibungsgegner", die ich "Antis" nenne, das finde ich klarer. Denn gegen Abtreibung ist ja auch die Betroffene. Diese "Antis" sind weltweit unterwegs und haben dieses Gesetz irgendwann entdeckt. Ihr Ziel ist es, die Gleichberechtigung auszuhebeln und Frauenrechte einzuschränken. Ihnen passt der Wandel nicht.
"Abtreibungsgegner" beim "Marsch für das Leben" in Berlin.Bild: IMAGO / Seeliger
Wer sind denn diese "Antis"?
Da gibt es zum Beispiel die "Agenda Europe", welche die Gleichberechtigung und die Ehe für alle abschaffen will. Das Thema Schwangerschaftsabbruch steht dort auch ganz oben, da sich darin so viele Themen vereinen. Das Thema Sexualität, das Thema Gleichberechtigung oder das Thema Selbstbestimmung. Aber das ist das, was sie bekämpfen. Das wollen sie nicht. Sie wollen dieses tradierte Bild, in dem die Frau aus der Rippe Adams geschnitten ist.
Kristina Hänel bei einer Protestaktion vor dem Hamburger Landgericht.Bild: IMAGO / epd
Und was tun sie, um ihre Ziele zu verfolgen?
Sie haben irgendwann den Paragrafen entdeckt und damit eben dafür gesorgt, dass in Deutschland hunderte Seiten vom Netz genommen wurden. Und den meisten Ärzten und Krankenhäusern war das ja überhaupt nicht bewusst. Man kommt ja nicht auf die Idee, dass man nicht auf seine Homepage schreiben darf, was die Risiken, Nebenwirkungen und Komplikationen beim Schwangerschaftsabbruch sein können und welche Methoden man durchführt.
"Es war für alle sehr schmerzhaft"
Kristina Hänel
Werden nach der Streichung des Paragrafen nun viele Ärztinnen und Ärzte angeben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen oder gibt es noch Angst vor Anfeindungen?
Ich denke schon. Das wird vermutlich erst langsam kommen, weil eben noch viele wirklich verschreckt sind. Ich hatte Kontakt mit hunderten von Kolleginnen und Kollegen, die angezeigt worden sind, und es war für alle sehr schmerzhaft. Das wird also noch ein bisschen dauern. Aber ich werde sofort meine Information wieder ins Netz stellen!
Was wird sich für betroffene Frauen ändern?
Für die ändert sich viel. Doch es gibt noch viele Probleme mit Paragraf 218. Aber es ändert sich insofern schon viel, als dass sie nicht mehr von der Aufklärung der Informationen abgeschnitten sind. Vielleicht kann man sich das in Berlin nicht vorstellen, aber wenn man nach Niederbayern guckt oder auch nach Osthessen, dann gibt es kaum oder keine Möglichkeit für einen Schwangerschaftsabbruch.
Das regelt der Paragraf 218 StGB
Der Paragraf 218 Strafgesetzbuch besagt, dass eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe droht, wenn man eine Schwangerschaft abbricht. Unter bestimmten Voraussetzungen bleibt der Schwangerschaftsabbruch jedoch straffrei. So muss die Schwangere zum Beispiel nachweisen, dass sie sich hat beraten lassen und nach dieser Beratung drei Tage "Bedenkzeit" eingehalten hat. Auch muss der Eingriff von einem Arzt vorgenommen werden und die Empfängnis darf nicht mehr als 12 Wochen zurückliegen.
Was machen die Frauen dort, wenn sie abtreiben möchten?
Frauen müssen von vornherein 100 oder sogar 150 Kilometer fahren. Oder sie wohnen vielleicht in der katholischen Stadt wie Fulda und dann kriegen sie auch nicht immer überall gleich die richtigen Informationen und werden hin- und hergeschickt. Man geht ja als Erstes ins Netz, bevor man sich mit einem solchen Thema jemandem anvertraut. Und dann landen die Frauen auf den Webseiten der "Antis".
"Dieser Verlust von Zeit bedeutet ein erhöhtes gesundheitliches Risiko"
Kristina Hänel
Welche Informationen brauchen Frauen vor dem Eingriff?
Frauen sollten vorher Informationen über ihre Ärzte einholen können. Ich habe zum Beispiel lange zum Thema sexualisierte Traumatisierung und Gewalt gearbeitet. Und dann fahren Frauen schon ein Stück, um zu einer Ärztin zu kommen, bei der sie sich mit ihrem Thema aufgehoben fühlen. Oder ein anderes Beispiel: Wenn ein Arzt auch Beratung auf türkischer Sprache anbietet, das wollen die Menschen wissen. Mit diesen Informationen können sich die Frauen einen Arzt suchen, bei dem sie sich gut aufgehoben fühlen mit ihrem speziellen Bedarf. Das wird sich ändern: dieses hilflose, demütigende und verletzende Suchen.
Was halten Sie von den anderen Regelungen, der Bedenkfrist von drei Tagen und der Beratungspflicht?
Irgendwann werden auch die abgeschafft werden.
Wie kommen Sie darauf?
Sogar die WHO fordert Deutschland auf, diese Verzögerung abzuschaffen. Das Ziel ist ein sicherer Zugang zu Informationen und einem sicheren Schwangerschaftsabbruch und keine unnötigen Einschränkungen, weil es die Gesundheit beeinträchtigt. Dieser Verlust von Zeit bedeutet ein erhöhtes gesundheitliches Risiko.
Protest in Berlin für mehr Selbstbestimmungsrechte.Bild: www.imago-images.de / Emmanuele Contini
Im Koalitionsvertrag werden diese Punkte ja auch angesprochen.
Es soll nun geprüft werden, dass der Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch gestrichen und stattdessen an anderer Stelle geregelt wird. Wir sehen das ja in ganz vielen Ländern der Welt. Und gerade die Katholischen machen gerade alle ihre Liberalisierung durch – abgesehen von Polen und Amerika leider. Frankreich hat beispielsweise auch die Beratungspflicht und die Bedenkzeit abgeschafft. Freiwillige Beratung und Unterstützung bei Ambivalenz ist wichtig – in der Regel ist die Entscheidung aber schon klar.
"Manche von uns haben noch Frauen sterben sehen"
Kristina Hänel
Warum gibt es immer weniger Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten? Ein Großteil der Mediziner gehört Ihrer Generation an.
Meine Generation hat noch den Wechsel von den illegalen Abbrüchen zu der Liberalisierung mitbekommen. Manche von uns haben noch Frauen sterben sehen, die nach verpfuschten Abtreibungen ins Krankenhaus kamen. Auch in meiner Zeit mussten Frauen noch in die Niederlande, nach Polen oder England fahren, um einen Abbruch vornehmen zu lassen.
Nach Polen?
Verrückt, oder? Das kann man sich heute kaum vorstellen.
Was hat sich damals in Deutschland geändert?
Aus der damaligen Situation haben die Medizinerinnen und Mediziner entschieden: "Da wollen wir nicht länger zuschauen. Wir müssen etwas tun, müssen helfen." Daraufhin dachte man viele Jahre, dass es ja irgendwie laufe und die wechselnden Regierungen haben nur dabei zugeschaut, wie sich die Lage immer weiter verschlechtert hat.
Inwiefern?
Man hat die Ärztinnen und Ärzte alleingelassen. Diese ganzen Angriffe der Abtreibungsgegner zum Beispiel. Ich wusste das nicht. Erst, als ich selbst bekannt wurde, habe ich von den hunderten von Ärzten erfahren, die angezeigt worden sind. Keiner von denen hat das öffentlich gemacht. Das ist einfach alles so passiert. Dann verliert man die Energie und die Kraft, sich dagegen zu wehren.
"Dass Deutschland sich das leistet, begreife ich einfach nicht"
Kristina Hänel
Auch die sogenannten Gehsteigbelästigungen, bei denen "Abtreibungsgegner" vor Arztpraxen und Beratungsstellen stehen und betroffene Frauen sowie Mitarbeiter belästigen und angreifen, sollen verboten werden, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht.
Sie kennen vielleicht ähnliche Geschichten aus dem Rettungsdienst. Da werden die Mitarbeiter auch immer mal bedroht. Und auch gerade jetzt werden viele Ärzte, die impfen, bedroht. Aber da steht die Gesellschaft geschlossen hinter allem, man ruft die Polizei und die hilft dann. Beim Thema Schwangerschaftsabbruch ist es die ganze Zeit ein bisschen unklar. Man wird alleingelassen, obwohl man rechtmäßig handelt. Auch die Beratungsstellen werden angegriffen und bisher nicht wirklich geschützt.
Erschreckend.
Ja. Und auch besonders die Holocaust-Vergleiche, die seit Jahrzehnten gezogen werden. Dass Deutschland sich das leistet, begreife ich einfach nicht. Ich würde mich sehr freuen, wenn sich das ändert. Wenn man permanent mit NS-Tätern verglichen wird, braucht man wirklich Rückgrat, um diesen Beruf auszuüben. Das muss geklärt werden, da hoffe ich auf die Koalition.
Was erwarten Sie?
In Frankreich ist es beispielsweise völlig anders. Da gibt es richtig hohe Bußgelder, wenn man vor Beratungsstellen, Arztpraxen oder Kliniken die Leute belästigt.