Verteidigung gegen Russland: Estlands Start-ups bauen Mini-Raketen gegen Drohnen
Russische Kampfjets über der Ostsee, Cyberangriffe auf Ministerien, Störsignale im GPS: Für Estland und seine baltischen Nachbarn ist die Bedrohung aus dem Osten längst Alltag. Seit Jahren testet Russland an der Nato-Ostflanke die Reaktionen des Westens: mal mit Spionageflügen, mal mit gezielten Provokationen im Luftraum.
Estland hat zudem aus seiner Geschichte eine tiefe Sensibilität gegenüber russischen Bedrohungen entwickelt. Deshalb will das Land seine Verteidigungsausgaben deutlich erhöhen. Wirtschaftsminister Erkki Keldo sagte kürzlich: "Wenn wir vorbereitet und nicht ängstlich sind, wird uns nichts passieren."
Zudem setzt das Land auf Eigeninitiative. Statt auf schwere Abwehrsysteme aus dem Ausland zu warten, entwickeln junge Firmen eigene Lösungen, die zur neuen Art der Bedrohung passen: Diese sind klein, billig und vor allem massenhaft produzierbar. Eine davon könnte die Luftverteidigung grundlegend verändern.
Russland provoziert die baltischen Staaten und die Nato erneut
Denn die Vorfälle häufen sich. Estland selbst wurde zuletzt direkt herausgefordert: Am Freitag tauchten bewaffnete russische Soldaten in Grenznähe auf, im sogenannten Saatse-Stiefel. Das ist ein schmaler russischer Gebietsstreifen, der in estnisches Territorium hineinragt.
Die Behörden sperrten vorsorglich eine Straße, um "mögliche Provokationen und Vorfälle zu verhindern". Innenminister Igor Taro sagte anschließend: "Neu ist, dass sie mitten auf der Straße standen – das ist bisher noch nie passiert."
Außenminister Margus Tsahkna rechnet mit weiteren Provokationen. "Es geht nicht um Estland, sondern darum, die Einheit der Nato zu testen", sagte er der dpa.
Die Idee in der Verteidigung gegen Russland: Mini-Raketen
Als Mitte September Billigdrohnen über Polen flogen, reagierte die Nato mit konventionellen Abfangwaffen. Doch viele moderne Luftabwehrsysteme sind auf teure, hochpräzise Munition ausgelegt. Das Problem: Eine einzelne Iris-T-Rakete kostet laut Bericht mehrere Hunderttausend Euro, eine Angriffs-Drohne nur ein paar Hundert Euro. Dieses Missverhältnis macht konventionelle Reaktionen ineffizient.
Auch deshalb kritisierten Expert:innen die Nato dafür, hier mit teuren "Kanonen auf Spatzen" schießen zu wollen, watson berichtete.
Erst vergangene Woche ließ die Royal Air Force zwei Aufklärungsflugzeuge über der gesamten Ostflanke patrouillieren. Zwölf Stunden lang, von Nordnorwegen bis zum Schwarzen Meer. Die britische Luftwaffe erklärte laut, die Mission solle "das Nato-Engagement für kollektive Verteidigung und die Fähigkeit, auf Bedrohungen zu reagieren" unter Beweis stellen.
In Tallinn arbeitet das Start-up Frankenburg Technologies an einer anderen Antwort: einer kleinen, günstigen Abfangrakete namens Mark One. Das Gerät ist nicht für große Distanzen gedacht, sondern für präzise Treffer gegen einzelne Drohnen. Und zwar in Mengen.
"Man muss Masse mit Masse beantworten", sagt Firmenchef Kusti Salm laut "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ). Das Konzept: viele einfache Raketen in großer Stückzahl, deutlich günstiger und leichter zu produzieren als traditionelle Abwehrmunitionssysteme.
Raketen im Kleinformat: So funktioniert die neuartige Abwehr-Waffe
Die Raketen werden von einer kompakten Abschussrampe gestartet, die auf einem Pickup montiert werden kann. Sie sind mobil und schnell verlegbar. Frankenburg hat nach eigenen Angaben bereits mehr als 50 Feldtests mit estnischen Truppen durchgeführt; nun steht die Serienfertigung an. Ingenieur Andreas Bappert, früher bei Diehl Defence, betont den Kosten-Nutzen-Effekt: "Es ist zehnmal billiger und hundertmal effektiver", zitiert die "FAZ" seinen Kommentar zur Idee.
Parallel zu Mini-Raketen arbeiten estnische Firmen an Sensoren, Detektionswällen und automatisierten Reaktionen. Bei Defsecintel läuft die Idee so: Grenzseitige Sensoren erkennen Drohnen, die Steuerzentrale wählt dann automatisch das passende Gegenmittel, etwa Abwehrdrohnen oder Netze, die die Angreifer einfangen. Viele dieser Systeme werden laut "FAZ" bereits in der Ukraine getestet.
Solche Entwicklungen folgen einer klaren Logik: Drohnen greifen nicht mehr einzeln an, sondern in Schwärmen. Deshalb müsse, so Salm, "auch die Verteidigung in Schwärmen denken".
Estlands Industrie sieht sich gezwungen, schnell zu liefern. Kooperationsmöglichkeiten mit ukrainischen Truppen haben die Entwicklung beschleunigt: Viele Systeme werden dort bereits unter realen Kriegsbedingungen getestet.
Laut Kusti Salm von Frankenburg Technologies ist "Mark One" eine Antwort auf die Realität moderner Drohnenkriegsführung, weil sie schnell und massenproduzierbar sei.
Die Mini-Raketen reduzieren damit die Kosten pro Abschuss massiv, doch sie bringen auch neue Fragestellungen: Wie können sie in bestehende Luftverteidigungssysteme integriert werden? Wie und wo dürfen sie eingesetzt werden? Zudem bleibt offen, wie solche Lösungen im Großmaßstab funktionieren, wenn Drohnen in Schwärmen und über weite Flächen operieren.
(Mit Material von dpa)