Vier Monate ist die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP an der Regierung. Vier Monate hat es gedauert, bis die erste Ministerin ihren Hut nimmt. Familien- und Jugendministerin Anne Spiegel (Grüne) kündigte am Montag ihren Rücktritt an. Sobald Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sie entlässt, scheidet sie aus der Regierung aus.
Spiegel stolperte über ihre Fehltritte in den Tagen und Wochen nach der Flutkatastrophe im rheinland-pfälzischen Ahrtal im Sommer 2021. Die Grünen-Politikerin war damals Landesministerin für Umwelt und Familien – sie leitete zwei Ministerien gleichzeitig. Entscheidend für ihren Rücktritt waren wohl Recherchen der "Bild am Sonntag", die offenlegten, dass Spiegel zehn Tage nach der Flutkatastrophe mit ihrer Familie für vier Wochen in den Urlaub fuhr.
Auch die Krisenkommunikation Spiegels war in den Augen vieler Beobachterinnen und Beobachter verheerend: Informationen zu ihrem Aufenthalt im Sommer 2021 gab sie nur stückchenweise preis, am Sonntagabend schließlich gab sie ein denkwürdiges Pressestatement ab. In welchem sie sich emotional sichtbar angefasst und unstrukturiert für ihr Verhalten entschuldigte.
watson hat mit Kommunikationsberater und Johannes Hillje darüber gesprochen, was der Fall Spiegel über politische Kommunikation verrät – und wie berechtigt mit Blick auf frühere CDU- und CSU-Minister der Vorwurf der Doppelmoral bei der Beurteilung von Spiegels Handeln ist.
watson: Herr Hillje, war es richtig, dass Anne Spiegel von ihrem Ministeramt zurückgetreten ist?
Johannes Hillje: Ja, ich finde das richtig. Mit ihrer Krisenkommunikation hatte sie ihre eigene Krise noch verschärft. Die Fragen über ihre politische Eignung wurden ergänzt um die Frage der persönlichen Eignung. Dadurch ist der Druck auf sie noch größer geworden, der Rücktritt ist deswegen konsequent.
Bei Anne Spiegel ging es erst um SMS, die sie nach der Flutkatastrophe im Ahrtal intern verschickt hatte – in denen sie den Eindruck erweckte, ihr gehe es vor allem um ihr eigenes Bild. Später um den Urlaub mit ihrer Familie, über den sie nicht gesprochen hatte. Ist die Ministerin über ihre Kommunikation gestolpert?
Man kann Politik und Kommunikation nicht voneinander trennen.
Das müssen Sie erklären.
Politik besteht in einer Demokratie zu 80 Prozent aus Kommunikation. Politik ist kommunikatives Handeln: ob interne Verhandlungen oder öffentliche Deutungskämpfe – alles wird kommunikativ verhandelt.
Viele Menschen sehen aber einen erheblichen Unterschied zwischen dem, was eine Politikerin oder ein Politiker sagt – und dem, was sie oder er tut.
Das Gesagte kann eine ähnlich große Wirkung haben wie das Getane. Das sieht man ja daran, dass die damalige Landesministerin Spiegel sich als erste Reaktion auf eine Flutkatastrophe Gedanken über das "Wording" machte – also darüber, wie sie ihr Handeln bestmöglich nach außen kommuniziert. In einer Demokratie müssen politische Entscheidungen immer über Kommunikation legitimiert werden. Wer seine Taten nicht angemessen kommuniziert, bekommt auch für gute Politik wahrscheinlich keine positiven Rückmeldungen. Trotzdem stecken hinter der Lawine der Kritik an Anne Spiegel erstmal handwerkliche politische Fehler.
Nämlich?
Dass sie und Ihr Team das Ausmaß der Jahrhundertflut im Juli 2021 unterschätzt haben. Und dass sie dann als Umwelt- und Familienministerin in Rheinland-Pfalz entschieden hat, nicht an den Kabinettssitzungen in den Wochen danach teilzunehmen. Das alles schon zehn Tage nach der Flut und vier Wochen lang, in einer akuten Krisensituation. Das ist auch erst mal eine politische Fehlentscheidung der Ministerin gewesen. Dann hat sie darüber auch noch die Unwahrheit gesagt. Dafür wurde sie zu Recht in der Öffentlichkeit kritisiert.
Warum haben ihr langer Urlaub und ihre Nicht-Teilnahme an Kabinettssitzungen aber so lange fast niemanden gestört – und sind erst jetzt, fast neun Monate später, zum Skandal geworden?
Es gibt jetzt den Untersuchungsausschuss im rheinland-pfälzischen Landtag, der die Flutkatastrophe aufarbeitet. Dazu kommt, dass gerade eine weitere journalistische Aufarbeitung der Tage rund um die Flut stattfindet. Im Zuge des Wahlkampfes in Nordrhein-Westfalen. Dort ist die CDU-Umweltministerin zurückgetreten, weil sie nach der Flut nach Mallorca gereist war. Deswegen sind Journalisten auf die Idee gekommen, auch bei Ministerin Spiegel nachzufragen, wann sie im Urlaub war. Es ist ja auch richtig, dass diese Aufarbeitung stattfindet, aber es sind manchmal Zufälle der Aufmerksamkeitszyklen. In der akuten Krisenlage gab es erstmal andere Probleme als die, ob eine Umweltministerin persönlich an Kabinettssitzungen teilnimmt oder nicht.
Einen entscheidenden Anteil an Spiegels Rücktritt hatte wohl ihre denkwürdige Pressekonferenz am Sonntagabend, bei der sie überfordert und überwältigt wirkte. Es wird ja oft von Politikerinnen und Politikern gefordert, sie sollten authentisch und unverstellt sein und nicht in Floskeln reden. Zeigt Frau Spiegels Auftritt, dass auch zu viel Authentizität ein Problem ist?
Wer sagt, dass Authentizität, also Echtheit, über alles geht, macht es sich zu einfach. Bei Frau Spiegels Auftritt bedeutete Authentizität Aufgewühltheit. In ihrem Statement haben Klarheit und Struktur gefehlt, sie wusste nicht einmal, wie sie es abschließen sollte. Sie war offensichtlich nicht in der emotionalen Verfassung, das souverän vorzutragen. Ihre Authentizität wurde ihr zum Verhängnis. Es war falsch, in diesem Zustand vor die Kameras zu treten. Das war dann auch ein Versagen ihres Presseteams. Das Statement hat die Lage der Ministerin noch verschlechtert. Das war wirklich ein Negativbeispiel für das Lehrbuch der politischen Kommunikation.
Hätte Anne Spiegel die negativen Schlagzeilen dann einfach aussitzen sollen – so, wie das zum Beispiel CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer nach dem Desaster der Pkw-Maut in der vergangenen Legislatur gemacht hat?
Nein, Anne Spiegel musste sich äußern. Aber sie hätte bis Montag früh warten können, statt sich am Sonntagabend zu äußern. Sie kam ja bei der Uhrzeit nicht mehr in die Tageszeitungen nächsten Morgen. Ihr Statement war wohl eine Art kollektive Panikreaktion ihres Teams auf die Berichterstattung der "Bild am Sonntag". Und Panik ist selten ein guter Ratgeber in einer Krise.
Besteht die Gefahr, dass dieser Fall Politikerinnen und Politiker davon abschreckt, ehrlich und authentisch zu kommunizieren?
Das sollte es nicht. Für Anne Spiegels Transparenz und Ehrlichkeit gibt es berechtigtes Lob. Aber diese Ehrlichkeit muss man trennen von der falsch verstandenen Authentizität, die ich gerade meinte, im Sinne eines aufgelösten, unsicheren Auftretens. Damit verschärft man eine Krise, statt sie zu lösen. Aber hinter dem Fall Spiegel steht auch ein größeres gesellschaftliches Problem.
Was meinen Sie?
Nicht Ursache, aber Kontext des Rücktritts ist die familiäre Überlastung, die sie offenbar erlebt hat, das ist ein Faktor der Debatte. Die Frage, wie Familie und Beruf in der Politik für Frauen vereinbar sein können. An Frauen werden höhere familiäre Erwartungen gestellt als an Männer mit Kindern. Man kann den Fall um Anne Spiegel davon nicht trennen. Dennoch muss auch sagen, dass Ämterhäufung zu dieser Überlastung geführt haben.
Sie sprechen einen wunden Punkt an. Viele Menschen haben in den Stunden rund um Spiegels Rücktritt den Eindruck geäußert, dass bei Politikerinnen mit anderem Maß gemessen werde als bei Politikern. Gegen Verkehrsminister Scheuer oder CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn gab es in der vergangenen Legislatur mindestens genauso schwerwiegende Vorwürfe wegen ihrer Amtsführung. Sie sind aber nicht zurückgetreten.
Ich kann diese Kritik nachvollziehen, aber die Schwere des Vergehens ist bei Rücktritten manchmal geringer als bei Nicht-Rücktritten.
Wie meinen Sie das?
Am Ende kommt es nicht nur auf den sachlichen Vorwurf an – sondern auch darauf, wie ihn die Öffentlichkeit, die Medien und vor allem die eigene Partei wahrnehmen...
... was Sie beschreiben, ist nichts anderes als Doppelmoral.
Genau das wollte ich gerade sagen. Man sieht das an Andreas Scheuer sehr gut: Auf ihn gab es eben keinen Druck aus der eigenen Partei. Die CSU-Spitze hat ihn bis zum Ende geschützt. Dass ausgerechnet der Generalsekretär der CSU, Stephan Mayer, laute Rücktrittsforderungen in Richtung Anne Spiegel gestellt hat, sobald die Vorwürfe bekannt wurden, ist Doppelmoral. Das ist die schlimmste Form des politischen Opportunismus.
Haben die Grünen Anne Spiegel hängen lassen?
Offensichtlich waren die Grünen auch der Meinung, dass die Zeit reif für einen Rücktritt war. Sie hatte also den Rückhalt ihrer Partei nicht mehr.
Sie haben in ihrer Arbeit als Politikberater sicher auch schon Situationen erlebt, in denen Politikerinnen und Politiker abgestürzt sind, so wie jetzt Anne Spiegel. Was ist jetzt wichtig, um ihr dabei zu helfen, diese psychische Belastung zu meistern?
Man sollte ihr zunächst Respekt zollen: für die Entscheidung zum Rücktritt, aber auch für die geleistete Arbeit als Bundesministerin. Zurückgetretene Politikerinnen und Politiker können sich schnell sehr einsam fühlen. Politik ist ein teilweise brutales, aber vor allem auch sehr schnelles Geschäft. Es wird jetzt eine Nachfolgerin präsentiert, Anne Spiegel wird sich vermutlich aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Sie kann dann auch relativ schnell in Vergessenheit geraten.
Was sollten ihre politischen Weggefährten jetzt tun?
Ich glaube, es ist wichtig, dass gerade Parteifreunde erkennbar und empathisch an ihrer Seite stehen, für sie da sind. Sie hat jetzt unglaublich stressige Wochen hinter sich. Nach einem Absturz – wenn die zurückgetretene Person keine Rolle mehr für die eigenen Karriereaussichten spielt – zeigt sich, ob Parteifreunde echte oder nur strategische Freunde sind.