Nach Abzug der US-Armee aus Afghanistan und der Machtübernahme der Taliban mussten viele Afghan:innen fliehen. Die Kabul Luftbrücke hilft bei der Evakuierung aus dem Land.Bild: IMAGO / ZUMA Wire
Interview
Ein Lichtermeer vor dem Bundestag soll am Tag der Menschenrechte erstrahlen. Diese Aktion ist der Abschluss einer Kundgebung von der Nichtregierungsorganisation (NGO) "Leave No One Behind" und ihren Partnerorganisationen. Sie wollen mit der Kundgebung auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen, die Bundesregierung zum Handeln drängen und Aktivist:innen verschiedener NGOs vernetzen.
Gedenkaktion für die Opfer des russischen Angriffskriegs vor dem Bundestag.Bild: IMAGO / Political-Moments
Denn: viel zu oft würden verschiedene Krisen gegeneinander ausgespielt. Das meinen Fee Marie Kranzer, Leiterin der "Supportstructur" der NGO "Leave No One Behind" und Tilly Sünkel, Leiterin von "Kabul Luftbrücke". Sie haben mit watson über die Aktion und über ihre Arbeit gesprochen.
Watson: Fee und Tilly, ihr plant am 10. Dezember eine Kundgebung vor dem Bundestag. Dabei soll es 16 Redebeiträge geben, die sich mit unterschiedlichen Krisen und Menschenrechtsverletzungen beschäftigen. Warum setzt ihr nicht den Fokus auf ein Beispiel?
Fee: Es gibt so viele verschiedene Gruppen, die so sehr kämpfen und wertvolle Arbeit machen, aber oft nicht zusammenkommen und marginalisiert werden. Letzten Endes geht es immer um die Verteidigung der Menschenrechte. Also egal, ob das jetzt Seenotrettungs-Organisationen sind, die Menschen aus dem Mittelmeer ziehen oder die Kabul Luftbrücke, die Menschen aus Afghanistan evakuiert. So viele verschiedene Organisationen, so viele verschiedene Initiativen: beispielsweise das "Women, Life, Freedom-Collective", das sich gerade jetzt für den Iran so starkmacht und die großen Demos organisiert.
Worum geht es euch?
Fee: Im Kern geht es immer darum, Menschenrechte zu verteidigen und einzufordern. Und die Idee ist, sie alle am Tag der Menschenrechte zusammenzubringen und zu zeigen: Zusammen sind wir keine marginalisierten Gruppen. Sondern: Zusammen sind wir sehr viele – eine kritische Masse. Und gemeinsam fordern wir die Einhaltung der Menschenrechte. Und dass die Bundesregierung endlich anfängt, sie an oberste Priorität zu setzen. Vor irgendwelchen anderen Interessen.
Tilly Sünkel von der Kabul Luftbrücke kämpft dagegen an, dass Afghanistan nicht vergessen wird.bild: Tilly Sünkel / privat
Tut die Regierung das nicht?
Tilly: Nein. Der Grundgedanke von diesem Konzept "stronger together" ist ein bisschen, dass eine bestimmte Politik, die auf Gewinn und Profit ausgelegt ist, oft über Themen drüber bügelt, wo man eigentlich eine Verantwortung hätte. Die Grundidee davon ist: Warum müssen sich diese Themen in allen Weltregionen, allen Gebieten, wo wir eine Verantwortung sehen und wahrnehmen, immer so gegenseitig gegeneinander ausspielen?
Das ist total absurd: Wenn ich mich jetzt für Afghanistan einsetze, schon über ein Jahr, und ich auf halber Strecke aber irgendwie dagegen ankommen muss, dass der Ukraine auch noch geholfen wird, ist das ja nicht Sinn und Zweck der Sache. Es ist ja eine bestimmte Politik, die dazu führt, dass es so viele Krisen gibt.
"Es ist auch für die Menschen total gut, weil sie sich eben nicht mehr entscheiden müssen: 'Auf welche Krise soll ich denn jetzt gucken?'"
Fee Marie Kranzer
Ich verstehe es so: Die Aufmerksamkeit ist nicht unbegrenzt vorhanden. Dann ist eine bestimmte Krise mehr im Fokus als eine andere. Was ist eure Antwort darauf?
Fee: Das ist eben ein Prinzip von "Leave No One Behind", der Name sagt es schon aus: Auf viele Orte mit ihren Problemen zu schauen und viele, verschiedene Projekte zu unterstützen. Das spiegelt sich wider bei unserer "Stronger together"-Weihnachtskampagne. Das ist eine Patentschafts-Kampagne, die so funktioniert: Prominente übernehmen eine Patenschaft für ein Projekt und werben Spenden ein. Die Hälfte der Spenden gehen an dieses konkrete Projekt.
Und die andere Hälfte?
Fee: Die andere Hälfte wird für verschiedene andere Zwecke eingesetzt, kleine Projekte, die eben nicht so eine starke Reichweite haben können. Wir verteilen das Geld dorthin, wo es gebraucht wird.
Es ist auch für die Menschen total gut, weil sie sich eben nicht mehr entscheiden müssen: "Wo soll ich denn jetzt helfen?Worum soll ich mich kümmern? Ich hab doch auch noch mein Leben." Innerhalb dieser Kampagne von "Leave No One Behind" können wir sagen: Das musst du nicht, du weißt, damit passiert Gutes, du kannst dir alle Projekte anschauen. Wir schauen, dass es gerecht verteilt wird, und dass es dort ankommt, wo es Menschen wirklich hilft.
Etwas Sinnvolles zu dieser Welt beitragen zu können, motiviert Fee Marie Kranzer von "Leave No One Behind".bild: Fee Marie Kranzer / privat
"Für mich wäre es belastender, diese Arbeit nicht zu machen, weil ich so das Gefühl habe, irgendwas Sinnvolles zu dieser Welt beitragen zu können."
Ehrenamtlerin Fee Marie Kranzer
Habt ihr noch ein Leben abseits vom Aktivismus?
Fee: Natürlich nimmt das schon einen großen Teil meines Lebens ein. Und wir sind ja beide fest angestellt bei "Leave No One Behind". Es ist tatsächlich unser täglich Brot. Ich mache aber auch noch viel ehrenamtlich nebenher, was dann auch Teil des Lebens wird. Hier findet man ja auch seine sozialen Kontakte und seine Freundschaften.
Tilly: Es ist etwas, was einen erfüllt. Auf eine bestimmte Art ist es nicht nur irgendeine Lohnarbeit, die nine-to-five ist, bei der man aufhört und sich damit nicht mehr beschäftigen muss. Stattdessen ist es etwas, wo man Freunde findet, wo man kreativ werden kann, wo man viele Erfolge sieht. Klar ist es auch belastend und man nimmt das Belastende auch mit nach Hause. Aber es ist ja trotzdem eine Arbeit, die einen schon stark macht.
Fee: Für mich wäre es belastender, diese Arbeit nicht zu machen, weil ich so das Gefühl habe, irgendwas Sinnvolles zu dieser Welt beitragen zu können und handlungsfähig zu sein. Hätte ich diese Arbeit nicht – oder dieses ehrenamtliche Engagement –, fiele mir das Leben sehr viel schwerer und meine emotionale Belastung wäre, glaube ich, höher.
Sowohl die Lohnarbeit als auch die ehrenamtliche Tätigkeit nimmt auf eine gewisse Weise eine Ohnmacht weg?
Fee: Auf jeden Fall. Und das möchte ich auf jeden Fall auch an andere Menschen weitertragen: Dass wir eben nicht machtlos sind. Dass wir nicht zuschauen müssen. Dass wir die Möglichkeit haben, etwas zu tun. In ganz vielen verschiedenen Arten und Weisen. Es kann sein, dass ihr am 10. Dezember auf diese Demo kommt, dass ihr auf alle möglichen anderen Demos geht, dass ihr Geld spendet, dass ihr euch einbringt in eurer Nachbarschaft, in irgendwelchen anderen Projekten oder Teil von einer NGO werdet. Es gibt mehr Möglichkeiten. Genau das ist auch ein Ziel am Tag der Menschenrechte: Zu sagen, hey, steht auf und macht was! Wir sind viele und gemeinsam sind wir stark.
Wie habt ihr die Organisationen ausgewählt, die am Samstag, dem Tag der Menschenrechte, zur Demo vor den Bundestag kommen werden?
Fee: Die Auswahl für den 10. Dezember war ganz einfach: Wir haben unsere Partnerorganisationen in und um Berlin angeschrieben und eingeladen zusammenzukommen. Manche haben gerade keine Kapazitäten, aber viele andere haben mit "Cool, wir kommen sehr gerne" reagiert. Inzwischen haben wir richtig viele Redebeiträge von Organisationen, aber auch von verschiedenen Communitys zugesagt bekommen.
Welchen zum Beispiel?
Fee: Wir sind zum Beispiel eng verbunden mit dem "Women, Life, Freedom-Collective" – die sind dann losgezogen und haben andere Organisationen für eine Zusammenarbeit angesprochen. Jetzt ist zum Beispiel das "Afghan Activist Collective" noch dabei, die ich vorher gar nicht kannte. Neue Vernetzungen entstehen, deshalb bin ich ganz gespannt auf Samstag: Wenn das dann so Eigendynamik annimmt und man merkt, da passiert etwas. Denn es ist offensichtlich auch ein Bedürfnis von Menschen, sich zusammenzutun, sich zu vernetzen und gemeinsam aktiv zu werden.