Die Einschaltquoten lagen zumindest zu Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar deutlich niedriger als bei vergangenen Turnieren. Der Bevölkerungsanteil, der die WM nicht verfolgt, liegt laut Experte Jürgen Mittag deutlich höher als bei den Weltmeisterschaften der letzten zwei Jahrzehnte.
Der Politikwissenschaftler arbeitet an der Deutschen Sporthochschule Köln. Viele Menschen boykottieren die Weltmeisterschaft im Golfstaat Katar, ganz unabhängig vom Sportlichen. Mittag sagt dazu:
Die Menschenrechtssituation im Land, die Vergabe der WM an den Persischen Golf und die Zustände, unter denen die WM-Stadien gebaut wurden, stößt vielen Menschen in Deutschland sauer auf. Doch wie sieht es in anderen Ländern aus?
In Deutschland zeigen viele Kneipen die Spiele nicht, wie das Magazin "Katapult" in einer Karte zusammengefasst hat. In Frankreich haben einige Städte das gemeinsame Fußballgucken auf großer Leinwand abgesagt: In Paris, Marseille oder Bordeaux haben die Kommunen kein Public Viewing organisiert. Auch in nordeuropäischen Ländern, in den Niederlanden, teilweise in Spanien, in England und Wales wird Katar als Ausrichter kritisch gesehen.
Wie sieht es außerhalb Europas aus?
Die Menschenrechtsverstöße des Emirats Katar stoßen auch in den USA auf Protest. Besondere Beachtung fand auch das politischste Spiel dieses Turniers: Die USA trafen im dritten Gruppenspiel auf das Team aus dem Iran. Einige sind noch immer sauer, dass die diesjährige WM bei der Vergabe im Jahr 2010 nicht an Amerika ging. Trösten können sich die Amerikaner:innen damit, dass die Fußball-WM der Männer 2026 in den USA, Kanada und Mexiko ausgetragen wird.
Zu den Ländern, in denen am meisten Kritik an der laufenden WM ausgeübt wurde, gehört auch Australien. Die Socceroos haben vor Beginn der Endrunde ein Video veröffentlicht, in dem sie die Menschenrechtsverletzungen im Golfstaat kritisieren. Unter anderem thematisierte das Video die Lage der Arbeiter:innen und die Situation von queeren Menschen in Katar.
Ganz anders in Brasilien. Dort ist der Fußball traditionell emotional aufgeladen und im politisch gespaltenem Land ein einendes Element. Bei der Präsidentschaftswahl im Oktober versuchte der rechtsextreme Kandidat Jair Bolsonaro, mit dem Fußball Wähler:innen für sich zu gewinnen.
"Bolsonaro und seine Anhänger hatten die Landesflagge und auch die Fußballtrikots der Nationalmannschaft als Erkennungszeichen im Wahlkampf verwendet und so hatten viele Brasilianer Scheu, diese zu verwenden, um nicht mit Anhängern Bolsonaros verwechselt zu werden", sagt Anja Czymmeck.
Die Leiterin der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung sagt weiter:
Nur wenige Journalist:innen hätten die schlechten Arbeitsbedingungen für die Bauarbeiter scharf kritisiert. "Hier steht der Fußball im Vordergrund und die Aussicht auf den nächsten Weltmeistertitel. So ist auch von einer Verweigerung der Zuschauer oder gar einem Boykott nichts zu spüren", sagt Czymmeck.
Stattdessen blicke man verwundert auf die Europäer:innen: "So wird in brasilianischen Medien auch gerne über die Doppelmoral Deutschlands mit Blick auf Katar berichtet, das man in Fragen der Menschenrechte scharf kritisiert, aber gleichzeitig Energiepartnerschaften und Investitionsabkommen mit dem Land eingeht."
In Asien werde die Weltmeisterschaft vor allem in Südkorea kritischer gesehen, in Japan hingegen nicht, meint Jürgen Mittag. In den Ländern, in denen die WM kritisiert werde, "stößt man in der Regel auch auf entsprechende Debatten in den Medien, aber auch auf Protestaktionen seitens der Bevölkerung, die bis zu Boykottaufrufen reichen." In der Summe sei das Bild sehr unterschiedlich. Während die einen der WM überaus distanziert gegenüberstünden, verfolgten die anderen das Ereignis "mit ungeteilter Begeisterung".
Doch warum ist das so? Jürgen Mittag macht eine Diskrepanz zwischen westlichen Staaten und den sogenannten BRICS-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – aus.
Diese Staaten, von denen viele in den vergangenen Jahrzehnten selbst solche Großereignisse ausgerichtet haben, weisen "zwar ein erhebliches wirtschaftliches Potenzial" auf, aber "dort besteht auch ein ganz anderes politisches System und eine ganz andere politische Kultur." Mittag führt dies aus:
In den arabischen Ländern machen viele Menschen eine Doppelmoral aus: "Hier ist die Weltmeisterschaft wirklich ein herausragendes Ereignis. Und den Protest nehmen diese Länder durchaus mit einem gewissen Unverständnis wahr", meint der Politikwissenschaftler.
Selbst in den Ländern, die zuletzt Katar gegenüber nicht besonders freundlich gestimmt waren. Dort sei eine Solidarität mit Katar zu beobachten, "wenn es um westliche Kritik am Turnierausrichter geht, nicht zuletzt von Deutschland. Dass von deutscher Seite erheblicher Protest geäußert wurde, das versteht man nicht."
Der Experte führt weiter aus: "Es wird durchaus mit einem gewissen Unverständnis auf den 'arroganten' Westen geschaut." Das Stimmungsbild sei, trotz aller Spannungen und Gegensätze, recht deutlich und in großer Breite im arabischen Raum auszumachen:
Mit großem Interesse seien die Erfolge Saudi-Arabiens vermerkt worden. Auch das Weiterkommen Marokkos ins Achtelfinale sei mit Sympathie quittiert worden. Der Wissenschaftler spricht von einer gewissen arabischen Solidarität, die vor allem in der Golfregion zum Ausdruck komme.
Er beobachtet ein "durchaus verändertes Selbstbewusstsein", sowohl auf die Fähigkeit, ein Großereignis wie die Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten zu können, als auch "was das Geschehen auf dem Fußballplatz angeht."