2017 wurde die AfD zum ersten Mal in den Bundestag gewählt. 12,6 Prozent der Bürgerinnen und Bürger gaben der rechtspopulistischen Partei damals ihre Zweitstimme. Laut aktueller Wahlumfragen rangiert die AfD zwischen neun und zwölf Prozent – und dürfte damit auch in der kommenden Legislaturperiode im Bundestag vertreten sein.
Der Politikberater und Autor Johannes Hillje veröffentlichte 2017 sein Buch "Propaganda 4.0 – Wie rechte Populisten Politik machen". Darin nimmt er die Kommunikationsstrategie der AfD unter die Lupe. 2021, vier Jahre später, hat Hillje eine komplett überarbeitete Ausgabe des Buchs veröffentlicht.
watson hat mit Johannes Hillje darüber gesprochen, wie sich die AfD entwickelt hat, was ihre anhaltende Popularität in Teilen der Bevölkerung für unsere Gesellschaft bedeuten kann – und wie andere Parteien darauf reagieren sollten. Wir haben ihn außerdem gefragt, wie sich der Einfluss der sozialen Medien auswirkt und was dort verbreitete Desinformation, also absichtlich irreführende Informationen, anrichten.
Herr Hillje, in Ihrem Buch schreiben Sie, dass die AfD die Partei mit den meisten Facebook-Fans ist. Auf YouTube erfreut sich die Partei ebenfalls großer Beliebtheit. Woran liegt es, dass Populisten ihre Anhänger dort so viel besser erreichen als andere Parteien?
Johannes Hillje: Wir wissen aus der Kommunikationsforschung, dass Beiträge, die emotionalisieren, die polarisieren, die zuspitzen und die provozieren, mehr Reichweite erzeugen als eher sachliche Beiträge. Deswegen würde ich sagen: Es gibt eine Anziehungskraft zwischen Social Media und Rechtspopulismus.
Ähnlich beliebt wie die AfD sind zumindest auf Instagram die Grünen. Wie wichtig sind soziale Netzwerke für die Wahl?
Niemand trifft seine Wahlentscheidung aufgrund von Facebook- oder Instagram-Posts – der Prozess der Wahlentscheidung ist deutlich komplexer. Aber viele Menschen informieren sich heute über Social-Media-Kanäle. Insbesondere junge Leute. Das trägt also zur Meinungsbildung bei.
Die Wahlkampfphase ging unter anderem mit gefälschten Zitat-Posts der Grünen-Kanzlerinnenkandidatin Annalena Baerbock los. Darauf war Baerbock zu sehen und ein vermeintlich von ihr stammendes Zitat, laut dem sie Haustiere verbieten möchte. Wie beeinflusst solches Negativ-Campaining Wahlen?
Die Mehrheit der Wählerinnen und Wählern kommt mit Desinformation in Kontakt. Das zeigen Umfragen. Und es gibt durchaus Menschen, die falsche Informationen lesen und dann anfangen zu zweifeln. Bürgerinnen und Bürger müssen seriöse von unseriösen Quellen unterscheiden können und sollten insbesondere Social Media kritisch konsumieren. Medien müssen ihre seriösen Inhalte besser über Social Media verbreiten und Falschnachrichten mit hoher Reichweite richtigstellen. Und die Parteien müssen auch selbst Abwehrmechanismen aufbauen.
Welche Abwehrmechanismen?
Wenn eine Desinformation noch nicht stark verbreitet ist, ist es der erste und wichtigste Schritt, diese Desinformation der jeweiligen Plattform, also zum Beispiel Facebook, zu melden.
Und wenn es dafür zu spät ist?
Wenn die Desinformation bereits zu viele Leute erreicht hat, auch solche, die mit dem Gedanken spielen, die betroffene Partei zu wählen, muss diesen potenziellen Wählerinnen und Wählern klargemacht werden, dass es eine Lüge und dass die eigene Position eine andere ist. Diese Richtigstellung muss schnell und effektiv verbreitet werden.
Die AfD nutzt in ihrer Social-Media-Kommunikation häufig die Ausgrenzung: Sie spricht von "Wir" und "Die". Warum funktioniert diese Strategie so gut?
Weil die AfD damit ein Identitätsangebot schafft. In 75 Prozent ihrer Facebook-Beiträge aus der vergangenen Legislaturperiode stecken "Wir"-Botschaften. So soll ein Gemeinschaftsgefühl, eine Identifikationsmöglichkeit für die Anhänger geschaffen werden. Gleichzeitig wird dieses "Wir" von Fremdgruppen abgegrenzt. So entstehen Feindbilder: Migranten, andere Parteien oder bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie die Klimabewegung.
Die AfD nimmt eigene Youtube-Formate auf, die wie journalistische Talkshows wirken sollen. Darin geht es zum Beispiel um die Corona-Politik, die von der AfD massiv kritisiert wird. Was verspricht sich die Partei davon, sich auf die Seite der Corona-Skeptiker zu schlagen?
Für Corona-Leugner sind sozialen Medien der perfekte Kommunikationskanal. Bei diesem Thema ist die allgemeine Verunsicherung groß, das ist ein Gelegenheitsfenster für Verschwörungserzählungen und Populismus. Die "Querdenken"-Bewegung nutzt die sozialen Medien besonders stark, auch weil ihre Anhänger den seriösen Medien wie dem öffentlichen Rundfunk nicht vertrauen. Allerdings ist sich der AfD-Vorstand uneins darüber, wie er mit der "Querdenken"-Bewegung umgehen soll. Manche meinen, es wäre eine "Corona-Pegida" , also eine neue Straßenbewegung für die AfD, anderen ist das verschwörungstheoretische Geraune suspekt. In den vergangenen Monaten hat sich die AfD vor allem zur Anti-Lockdown-Partei entwickelt. Das ist bei Querdenkern durchaus anschlussfähig.
Wieso bringt die Corona-Krise der Partei keinen weiteren Auftrieb?
Die Corona-Krise ist für die AfD anders als andere Krisen. Selbst die Anhängerschaft der Partei war zumindest am Anfang gespalten bezüglich der Schutzmaßnahmen. Viele haben sie sogar befürwortet. Es gab keine geschlossenen Reihen, keine eindeutige Position. Ein weiterer Grund ist, dass der Partei keine wirtschaftliche Kompetenz zugeschrieben wird – diese wird es aber brauchen, um die wirtschaftlichen Schäden der Pandemie zu reparieren.
In Ihrem Buch haben Sie beschrieben, dass in den letzten Jahren auf der einen Seite das Vertrauen in seriöse Medien wächst, gleichzeitig aber auf der anderen Seite das Misstrauen gleichermaßen gestiegen ist. Mittlerweile gibt es ein "alternatives Medienangebot", auch die AfD produziert eigene Talkformate und Dokumentationen. Wie gefährlich ist diese Entwicklung für den kommenden Wahlkampf und für unsere Gesellschaft?
Ich halte das für sehr gefährlich. Insbesondere wie die AfD im Bereich der Medienproduktion agiert. Die Partei ist selbst zum Medium geworden. Natürlich nutzen viele Parteien die Möglichkeit der sozialen Medien, um die klassische Presse zu umgehen – bis zu einem gewissen Punkt ist dieser direkte Austausch zwischen Partei und Bürger auch wünschenswert.
Aber?
Was die AfD macht und was ich demokratisch nicht für wünschenswert halte, ist, dass sie ihre Inhalte unter dem Motto "AfD statt ARD" produziert. Die Partei unterstellt den Medien pauschal, nicht die Wahrheit zu berichten und möchte daher ein Ersatz für unabhängigen Journalismus sein. Wenn die Grenzen zwischen parteiischer und journalistischer Berichterstattung verschwimmen, ist das sehr bedenklich für die demokratische Öffentlichkeit.
Wie muss die Gesellschaft darauf reagieren?
In meinem Buch plädiere ich für die Ausbildung von Informationskompetenz unter allen Bürgerinnen und Bürgern. Wir müssen heute unser eigener Chefredakteur sein. Die zentrale Aufgabe ist es, seriöse Informationen von unseriösen unterscheiden zu können. In den sozialen Medien haben wir nicht mehr den Luxus, dass bereits eine ausgebildete Redaktion überprüft hat, welche Informationen relevant und korrekt sind. Wir müssen dort alles selbst einordnen und filtern.
Müsste dafür zum Beispiel in der Schule ein größerer Fokus auf das Thema Medienkompetenz gelegt werden?
Natürlich ist die Schule ein wichtiger Ort, um Medien und Informationskompetenz zu vermitteln. Aber wir müssen auch die restlichen Teile der Gesellschaft erreichen. Es gibt Studien, die zeigen, dass vor allem ältere Menschen anfällig für Desinformationen sind. Das heißt, wir müssen auch andere Orte finden, wo Bürgerinnen und Bürger erreicht werden können. Deshalb halte ich zum Beispiel Weiterbildungen in Unternehmen für sehr wichtig.
Sympathie für die AfD haben nicht nur ältere Wähler, das hat die Wahl in Sachsen-Anhalt noch einmal verdeutlicht. 20 Prozent der unter 30-Jährigen haben die Partei dort in den Landtag gewählt. Wieso ist die Partei für junge Menschen attraktiv?
In ostdeutschen Bundesländern sind rechtsradikale und rechtsextreme Vereine seit Jahrzehnten stark in jugendlichen Milieus verankert. Zum Beispiel in Jugendklubs, sie mobilisieren mitunter aber auch an Schulen. Dadurch gibt es eine Anschlussfähigkeit von jungen Menschen an rechte Parteien. Das unterscheidet die ostdeutschen Bundesländer von den westdeutschen. Dazu kommen die Wendeerfahrungen, die die jungen Menschen von ihren Eltern weitergegeben bekommen haben.
Das heißt, wenn andere Parteien in diesen Bundesländern von den jungen Menschen gewählt werden wollen, müssen sie stärker in Vereinen und Jugendklubs vertreten sein?
Genau. Parteien müssen in der Lebenswelt von jungen Menschen präsent sein, nicht nur in der Tagesschau.
Sie beschäftigen sich seit Jahren mit der Kommunikation der AfD. Welche Erkenntnis fanden Sie bisher besonders erschreckend?
Ich finde besonders interessant, wie die AfD in ihrer eigenen Echokammer eine stabile Basis mit einem Gemeinschaftsgefühl geschaffen hat. Ich nenne das in meinem Buch die Bildung eines virtuellen Volkes. Früher sind die Verbindungen zwischen Parteien und ihren Wählenden in sozialen Milieus entstanden: Die SPD und die Arbeiterschaft, die CDU und die Katholiken. Diese Milieus gibt es heute in dieser Form nicht mehr. Die AfD hat stattdessen ein gemeinsames Band zu ihrer Anhängerschaft in der Echokammer geschaffen. Dort werden die Menschen in ein rechtspopulistisches bis teilweise rechtsextremes Weltbild sozialisiert. Für die andere Parteien und die etablierten Medien sind diese Menschen nur noch schwer zu erreichen.
Das heißt, diese Menschen konsumieren gar keine seriösen Medien mehr?
Doch. Aber die Deutung über die Inhalte der etablierten Medien werden in der Echokammer verhandelt: Dort wird dann gesagt, dass alles was Spiegel, ARD oder ZDF sagen, Lügen sind. Diese Echokammer ist die Lebensversicherung der AfD. Diese Klientel wird sie vermutlich auch in den nächsten Jahren in die Parlamente bringen.
Der Übergang zwischen konservativen und rechtspopulistischen Ansichten und Aussagen ist bei der AfD fließend. Was kann es für unsere Gesellschaft bedeuten, wenn die Klientel dieser Partei solche Meinungen unreflektiert übernimmt?
Das bedeutet, dass es eine Partei gibt, die strategisch daran arbeitet, bestimmte Grundwerte unserer Gesellschaft aufzukündigen. Zum Beispiel den Konsens zur klaren Verurteilung von NS-Verbrechen, das Bekenntnis zu Menschenrechten oder Grundrechten wie der Pressefreiheit. Der Auftrag für die anderen Parteien und unsere Gesellschaft lautet, wieder eine klare Verständigung darüber herzustellen, was zentrale Grundwerte in unserer Gesellschaft bedeuten.
Das klingt alles sehr ernst. Macht Ihnen irgendetwas Hoffnung oder sind wir verloren?
Wir sind überhaupt nicht verloren. Wichtig ist doch: Die AfD hat derzeit in einem niedrigen zweistelligen Bereich ihr Potenzial ausgeschöpft. Das kann sich mal wieder ändern. Aber aktuell ist das so und das ist der Verdienst des Verfassungsschutzes, aber auch aller zivilgesellschaftlichen Kräfte, die sich in den letzten Jahren gegen Rechtspopulismus, gegen menschenfeindliche Einstellungen positioniert haben. Das macht mir Hoffnung.
Das heißt, mit zehn Prozent können wir umgehen.
Zehn Prozent sind immer noch zu viel, aber die AfD ist nicht in der Lage, eine Mehrheit zu bilden. Es kommt aber weiterhin auf die anderen Parteien an, die AfD nicht zum Mehrheitsbeschaffer zu machen oder in irgendeiner Form an Mehrheiten zu beteiligen, wie wir es in Thüringen erlebt haben. Die AfD muss politisch unwirksam gemacht werden.