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Interview

Grüne Jugend: Heinrich und Dzienus verlangen mehr Einsatz von Grünen

Timon Dzienus und Sarah-Lee heinrich sind die beiden neuen Bundessprecher:innen der Grünen Jugend
Zwei Jahre lang waren Timon Dzienus und Sarah-Lee Heinrich die Gesichter der Grünen Jugend.Bild: watson / Joana Rettig
Interview

"Die Grünen haben oft die falsche Herangehensweise"

Zwei Jahre waren Timon Dzienus und Sarah-Lee Heinrich die Spitze der Grünen Jugend, nun werden neue Sprecherinnen gewählt. Im Interview spricht das Duo über den Rechtsruck, ihre Sorgen und darüber, was ihnen trotz alledem Hoffnung macht.
22.10.2023, 12:0722.10.2023, 12:09
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watson: Sarah, Timon, in euren letzten Tagen als Sprecher:innen-Duo ist neben den sich ohnehin überlagernden Krisen eine nächste hinzugekommen: Krieg im Nahen Osten. Wie geht es euch?

Timon: Wenn ich auf die Weltpolitik schaue, oft nicht gut. Die Dauerkrise ist manchmal erdrückend. Gleichzeitig ist unser Bundeskongress an diesem Wochenende, auf dem ganz viele junge Menschen zusammenkommen, die sich für unsere gemeinsame Zukunft einsetzen, wahnsinnig bestärkend. Es tut gut zu wissen, dass ich mit dem ganzen Scheiß nicht allein bin.

Sarah: Die aktuelle politische Lage macht mir extrem Angst. Als wir damals ins Amt gestartet sind, waren wir alle froh, dass die CDU aus der Regierung gekickt wurde. Wir hatten Hoffnung auf Veränderung – von dem Fortschrittsversprechen der Ampel ist aber leider nicht viel übrig geblieben. Gleichzeitig erleben wir gerade, wie sich die politische Lage stark verdunkelt. Als Grüne Jugend debattieren wir, wie wir als Gesellschaft dagegenhalten können.

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Ihr habt unter anderem einen Dringlichkeitsantrag zur Solidarität mit Israel auf dem Tagesplan. Schockiert es euch, dass Antisemitismus in Deutschland wieder sehr offen gezeigt wird?

Sarah: Ja und Nein. Es bestürzt mich, dass in Berlin eine Synagoge direkt zweimal angegriffen wird und Davidsterne an jüdische Häuser geschmiert werden. Und wenn jüdische Freund*innen sagen, dass sie sich nicht mehr trauen auf eine Demo zu gehen, dann ist das wirklich schlimm.

Aber?

Sarah: Auf der anderen Seite erleben wir in Zeiten des Rechtsrucks auch ohne den Anlass des Angriffes der Hamas auf Israel einen zunehmenden Antisemitismus in Deutschland. Und auch bei Entgleisungen von Politikern, die sich selbst "bürgerlich" nennen, verpasst es die sogenannte Mitte, den Antisemitismus der letzten Monate auch im Rahmen des Rechtsrucks zu benennen und zu kritisieren. Mir fallen dabei die antisemitischen Entgleisungen eines Hubert Aiwangers ein.

Timon: Was wir oft verdrängen, ist die dauerhafte Ebene: In Israel gehört Luftalarm zum Alltag. Und auch in Deutschland ist Antisemitismus dauerhaft präsent. In der vergangenen Woche hat sich der antisemitische Anschlag in Halle zum vierten Mal gejährt. Damals hatte ein Rechtsextremer versucht, zahlreiche Menschen in einer Synagoge zu ermorden.

Was in Deutschland ebenfalls präsent ist, ist die Debatte über Migration und Fluchtbewegungen. In einem Interview hat Kanzler Olaf Scholz angekündigt, dass nun massiv abgeschoben werden soll. Hättet ihr von den Grünen mehr Reaktionen darauf erwartet?

Timon: Ja. Ich verstehe nicht, warum die Grüne Führung da nicht schnell und vehement widerspricht. Es geht hier offensichtlich um eine Diskursverschiebung.

Wie meinst du das?

Timon: Wenn Olaf Scholz mit so einer Aussage nach vorne tritt, möchte er den Migrationskurs weiter nach rechts befeuern. Statt zu sagen, er will mehr abschieben, hätte er auch sagen können, er will mehr Menschen auf dem Mittelmeer vor dem Ertrinken retten. Er versucht momentan nicht nur dem Rechtsruck nachzugeben, sondern befeuert ihn massiv mit. Natürlich braucht es da Widerspruch von den Grünen, gerade auch, weil sie Teil der Regierung sind.

Sarah: Wenn die Grüne Partei diese Politik mitträgt, ist sie auch mitverantwortlich für die Entwicklung der Gesellschaft.

In den 90er-Jahren gab es schon einmal einen "Asylkompromiss" als Antwort auf eine große Fluchtbewegung und einen Rechtsruck in Deutschland. Knickt die Bundesregierung vor rechts ein?

Sarah: Nicht nur die Regierung. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich positiv darauf bezogen, was in den Neunzigern passiert ist. Es gab rechte Gewalt gegenüber Menschen, die migrantisiert sind. Geflüchtetenheime wurden angezündet. Der Kompromiss hat die Situation nie befriedet und darf sich auf keinen Fall wiederholen.

Timon: Es ist nicht nur ein Einknicken, Olaf Scholz hält das für eine gute Strategie.

Sarah-Lee Heinrich (Grüne Jugend)
Sarah-Lee Heinrich wird nun erst einmal ihr Studium aufnehmen.Bild: watson / benny krüger

Was wäre eine bessere Strategie?

Timon: Die Regierung muss Lösungen in den Mittelpunkt rücken. Die Kommunen sind seit Jahrzehnten kaputtgespart, Erstaufnahmeeinrichtungen werden immer wieder geschaffen und geschlossen, statt sie einfach zu erhalten. Das sorgt für Chaos. Die Entrechtung von Menschen schafft nicht einen neuen Kita-Platz, nicht eine neue Wohnung. Auch Arbeitsverbote, die es bis heute gibt, helfen nicht. Die Kommunen haben dadurch einen hohen bürokratischen Aufwand und die Menschen werden davon abgehalten, ein Teil der Gesellschaft zu werden. Das ist doch absurd.

Sarah, du hast in der Eröffnungsrede davon gesprochen, dass der Rechtsruck uns alle angeht. Welche Reaktion erwartest du von der Gesellschaft?

Sarah: Wir müssen als Gesellschaft sagen, dass wir diese Entwicklung nicht mittragen werden. Ein Rechtsruck hört nicht bei den Geflüchteten auf. Er gefährdet auch Menschen, die arm sind. Bürgergeldbezieher*innen, bald den Niedriglohnsektor. Er wird zudem auch gegen Frauen und queere Personen gehen. Im Bereich des Klimaschutzes werden positive Entwicklungen gegen null gehen. Klar müssen wir gegen die AfD auf die Straße. Das allein wird aber nicht reichen, um diese Entwicklung aufzuhalten.

Sondern?

Sarah: Es braucht massiven Druck auf die Bundesregierung. Ich war auf einer Demo von Sozial- und Jugendverbänden, die gegen Kürzungen in der Jugendarbeit protestiert haben. Wir haben uns vor das Familien- und Finanzministerium gestellt und klargemacht: Wir wollen die Demokratie retten, aber ihr gebt uns nicht das Geld dafür, das zu machen.

Ihr fordert von den Grünen einen Kurswechsel nach links. Wie stellt ihr euch das vor?

Sarah: Die Grünen müssen eine Gerechtigkeits-Klima-Partei sein. Sie müssen diejenigen sein, die sich für einen kostengünstigen ÖPNV einsetzen. Dafür, dass die Menschen gut verdienen und dass demokratiefördernde Projekte ausfinanziert sind. Und in den Wahlprogrammen finde ich diese Forderungen auch, nur in der Bundesregierung kommt das nicht an.

Woran liegt das?

Sarah: Die Grünen setzen sich oft für das Richtige ein, aber selten durch. Da fehlt es auch an Unterstützung von der SPD. Am Ende steht dann rot-gelb gegen grün. Die Grünen müssen einen Weg finden, dass soziale Politik umgesetzt wird.

Timon: Die Grünen haben aber auch oft die falsche Herangehensweise.

Inwiefern?

Timon: Sie wollen vor allem das Klima schützen und vielleicht das Leben von Menschen verbessern. Dabei muss das ineinandergreifen: Die Grünen müssen das Leben von Menschen verbessern und dabei das Klima schützen. Das Klimageld wäre dafür eine gute Möglichkeit, aber die Grünen haben diese Maßnahme in den vergangenen Monaten liegen lassen und auf das Finanzministerium verwiesen. Klar ist Christian Lindner dafür zuständig, aber die Grünen müssen innerhalb der Regierung auch Druck machen, dass diese Möglichkeit ergriffen wird.

Seid ihr enttäuscht von den Grünen in der Bundesregierung?

Timon: An manchen Stellen bin ich enttäuscht, ja.

Sarah: Ich will, dass sie endlich ihrer Verantwortung gerecht werden, und sich keiner mehr wegduckt.

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Wir haben über viele Krisen gesprochen, die Klimakrise kommt noch obendrauf. Was macht euch Hoffnung?

Timon: Als ich angefangen habe, mich zu politisieren, war ich an meiner Schule fast der Einzige. Damals hieß es, junge Menschen seien politikverdrossen. Die Generation "Kein Bock". Das sind wir nicht. Wir sind die Generation "Kein Bock auf Krise" und es gibt mir wahnsinnig viel Hoffnung, wenn ich sehe, wie politisch junge Menschen heute sind.

Sarah: Mir macht außerdem Hoffnung, dass immer wieder neue Projekte aufkommen: Seien es die krassen Kämpfe in den Krankenhäusern, Deutsche Wohnen enteignen oder die aktuelle Kampagne von Verdi und Fridays for Future "Wir fahren zusammen". Wir haben wieder starke Bewegungen und wir werden weiter Druck machen.

Nach vier Jahren Arbeit im Bundesvorstand: Was habt ihr in der kommenden Woche vor?

Timon: Ausschlafen.

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