
Der Angeklagte Stephan Balliet vor Beginn der Verhandlung im Gerichtssaal in Magdeburg.Bild: imago images / Christian Schroedter
Deutschland
22.07.2020, 13:0722.07.2020, 13:07
Der rechtsterroristische Anschlag auf die Synagoge in Halle
erschütterte vor rund neun Monaten Menschen überall auf der Welt. Am
Dienstag begann der Prozess – gleich zu Beginn sagt der Angeklagte
aus.
Neun Monate nach dem rechtsterroristischen
Anschlag von Halle hat der Prozess gegen den Angeklagten begonnen.
Seine rassistische Gesinnung stellte der 28-Jährige dabei offen zur
Schau. Schon bei Fragen zu seinem persönlichen Werdegang sprach er am
Dienstag mehrfach abwertend über Zuwanderer in seinem Dorf im Süden
Sachsen-Anhalts. Stephan B. werden 13 Straftaten vorgeworfen,
darunter zwei Morde und mehrere Mordversuche unter anderem an 52
Gläubigen in einer Synagoge in Halle.
Die Bundesanwaltschaft wirft dem Angeklagten vor, "aus einer
antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Gesinnung
heraus einen Mordanschlag auf Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen
Glaubens" geplant zu haben. Der Prozess vor dem Oberlandesgericht
Naumburg findet wegen des großen öffentlichen Interesses und aus
Sicherheitsgründen im größten Verhandlungssaal Sachsen-Anhalts in
Magdeburg statt.
B. hatte wenig Freunde und war in keinem Verein
Der Attentäter hatte am 9. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen
Feiertag Jom Kippur, schwer bewaffnet versucht, die Synagoge in Halle
zu stürmen. Laut Bundesanwaltschaft wollte er möglichst viele der 52
Besucher töten. Er konnte sich jedoch auch mit Waffengewalt keinen
Zutritt verschaffen. Daraufhin tötete er eine Passantin vor der
Synagoge und einen Mann in einem Döner-Imbiss. Außerdem verletzte er
auf seiner Flucht mehrere Menschen, bevor ihn Polizisten gut
eineinhalb Stunden nach Beginn der Tat etwa 50 Kilometer südlich von
Halle festnahmen.
Auf Fragen der Vorsitzenden Richterin zu seinem Werdegang antwortete
er knapp. Gute Freunde habe er nicht gehabt, er sei auch in keinem
Verein gewesen. Er habe vor allem Interesse am Internet gehabt, weil
man sich dort frei unterhalten könne. "Man fragt sich natürlich, wie
man solche Taten verhindern kann, ich habe da natürlich kein
Interesse dran", sagte B.
Machte Wehrdienst und brach Studium ab
Nach dem Abitur habe er einen verkürzten Wehrdienst absolviert, sei
sechs Monate Panzergrenadier in Niedersachsen gewesen. Er habe den
Wehrdienst anstrengend und doof gefunden, es sei "keine richtige
Armee" gewesen. Sein Studium habe er krankheitsbedingt abgebrochen,
danach habe er in den Tag hinein gelebt. "Nach 2015 hab ich
entschieden nichts mehr für diese Gesellschaft zu tun", sagte er.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland forderte eine Bestrafung "mit
aller Härte des Gesetzes". Der stellvertretende Vorsitzende der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, erklärte, der Prozess
führe die große Gefahr von Rechtsterrorismus und Rechtsextremismus
vor Augen. "Wir müssen alles dafür tun, dass Jüdinnen und Juden ohne
Bedrohung und Angst in unserem Land leben können."
Özdemir: "Viele Menschen gestorben, die nicht hätten sterben müssen"
Der Grünen-Politiker Cem Özdemir forderte ein konsequentes Vorgehen
gegen rechtsradikale Tendenzen. "Es sind viele Menschen gestorben,
die nicht hätten sterben müssen, hätte der Rechtsstaat von Anfang an
aufmerksam hingeschaut – übrigens auch in die eigenen Reihen", sagte
Özdemir, der selbst in Magdeburg vor Ort war. Halles
Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) sprach sich im
Bayerischen Rundfunk für eine weitere gesellschaftliche Aufarbeitung
des Anschlags aus.
Vor dem Gerichtsgebäude hatten sich Menschen aus Solidarität mit
Betroffenen, Hinterbliebenen und Opfern versammelt. Die Kundgebung
mit dem Motto "Solidarität mit den Betroffenen – keine Bühne dem
Täter" will dafür sorgen, dass die Nebenklägerinnen und Nebenkläger
nicht allein in den Prozess gehen, hieß es von den Veranstaltern. Vor
Prozessbeginn sprachen die Veranstalter von rund 100 Teilnehmern.
"Eine der größten antisemitischen Straftaten, der vergangenen Jahrzehnte"
Bereits vor Prozessbeginn wurde deutlich, dass die Nebenkläger sich
eine Beleuchtung der Hintergründe erhoffen. Es gehe darum, zu klären,
wie sich der Täter so radikalisieren konnte, sagte Juri Goldstein,
Anwalt von Besuchern der Jüdischen Gemeinde in Halle. Es gehe um die
Frage: Wie konnte jemand so viel Hass entwickeln "auf die Menschen,
die er gar nicht kennt". Die größte Herausforderung sei der Prozess
selbst, so der Anwalt. "Sie müssen bedenken, es ist eine der größten
und schwerwiegendsten antisemitisch motivierten Straftaten, die wir
in den vergangenen Jahrzehnten hatten. Das ist Aufgabe genug."
Das Gerichtsverfahren gilt als eines der größten und bedeutendsten in
der Geschichte Sachsen-Anhalts. Für das Verfahren sind zunächst 18
Verhandlungstage bis Mitte Oktober angesetzt. Im Falle einer
Verurteilung droht dem Mann eine lebenslange Freiheitsstrafe mit
anschließender Sicherheitsverwahrung.
Der Prozess findet unter hohen Sicherheitsauflagen statt – und konnte
auch deshalb erst mit zweistündiger Verspätung beginnen. Jeder, der
das Gerichtsgebäude betrat, musste einer Sicherheitskontrolle
unterzogen werden. Bei einem Probelauf vergangene Woche sei noch
nicht einkalkuliert gewesen, dass sich auch Medienvertreter einer
umfangreichen Sicherheitskontrolle unterziehen müssen, jetzt sei das
aber der Fall, sagte Gerichtssprecher Wolfgang Ehm.
(vdv/dpa)