Inszenierung ist ihr Geschäft. Mit einfachen Mitteln schaffen es die "Identitären" immer wieder, bundesweit für Aufsehen zu sorgen – und den Eindruck zu erwecken, sie seien eine breite und mächtige Bewegung. Dafür braucht es nicht viel: Ein paar Männer, die mit einem Banner auf das Brandenburger Tor klettern etwa, oder ein paar gut platzierte Plakate, auf denen syrische Flüchtlinge zur Ausreise aufgefordert werden. Geringer Aufwand für maximale Provokation.
Jede dieser Aktionen filmen und fotografieren die "Identitären". Denn ihre eigentliche Bühne ist das Internet. Selbst die kleinste Demonstration lässt sich dort größer darstellen. Der richtige Augenblick, die richtige Perspektive.
In Halle sieht die Inszenierung am frühen Samstagnachmittag wie folgt aus: Rund 200 Identitäre drängen sich vor einer Polizeiabsperrung in der Adam-Kuckhoff-Straße. Sie schwingen Fahnen und rufen lauthals im Chor: "Vorwärts, macht die Straßen frei". Die kämpferisch klingenden Parolen richten sich an die Polizisten vor ihnen. Hinter der Absperrung sitzen Gegendemonstranten und blockieren den Weg. Um die Demonstration der Identitären zu ermöglichen, müsste die Polizei gleich mehrere solcher Blockaden räumen. Die Rechtsextremen bleiben noch einige Minuten dicht gedrängt stehen, rufen "Ahu" und "Antifa nach Nordkorea". Der Leipziger Rechtsextremist Alexander "Malenki" Kleine feuert die Demonstranten an, mehrere Fotografen der "Identitären Bewegung" und der Kameramann eines "identitären" Youtube-Kanals halten ihre Kameras drauf.
Wenig später ist der kurze Moment der kämpferischen Stimmung auch schon wieder vorbei. Die meisten setzen sich wieder in den Schatten, oder gehen zurück in die Hausnummer 16. Hier betreibt die "Identitären"- Gruppe "Kontrakultur Halle" seit 2017 ein Hausprojekt mit Wohnungen, Büros und einer Bar. Im Innenhof sind Verkaufsstände mit Essen, Getränken und rechtsextremen Merchandise-Artikeln aufgebaut. Die kämpferische Inszenierung startete dort kurz zuvor mit der Aufforderung, auf die Straße zu kommen und "Druck" zu machen. Jetzt endet sie mit identitärem Bier und Fleisch vom Grill.
Das Haus spielt nicht nur am Samstag eine zentrale Rolle. Es ist das Alleinstellungsmerkmal der "Identitären" in Halle. Ortsgruppen der Rechtsextremen gibt es in mehreren Städten in Deutschland. Teilweise sind die in der Öffentlichkeit sogar deutlich aktiver als in Halle. Ein eigenes Haus, eine Schaltzentrale, aus der sie niemand hinauswerfen kann, das hat von diesen Gruppen jedoch niemand. Gekauft wurde das Haus 2017 von der Titurel-Stiftung, vertreten durch den hessischen AfD-Politiker Andreas Lichert. Der neurechte Verein "Ein Prozent" hat dort ebenso ein Büro wie der AfD-Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider – trotz offiziellem Unvereinbarkeitsbeschluss der AfD mit den "Identitären".
Die Bewohner selbst nennen ihr Hausprojekt "Flamberg", nach einem mittelalterlichen Schwert. Erklärtes Ziel ist es, durch das Haus offener und anschlussfähiger zu sein. Im Erdgeschoss finden nicht nur Vorträge oder Lesungen statt. An mehreren Abenden in der Woche gibt es eine offene Bar. So richtig offen ist die zwar nicht, Interessenten müssen sich per E-Mail anmelden. Trotzdem kämen immer wieder Leute vorbei, die mit den "Identitären" bis dahin nichts zu tun haben, erklärt ein Mann, der sich als Tassilo vorstellt, und am Samstag Journalisten durch das Haus führt. "Es kommen auch Menschen, die gar nicht vorhaben, Mitglieder zu werden", sagt er. "Auch Ältere, oder Leute, die nur zum Urlaub in Halle sind."
Beobachter der Szene schätzen den Erfolg des Hauses jedoch anders ein. Es liegt direkt neben dem geisteswissenschaftlichen Campus der Universität Halle. Dass unbeteiligte Studenten im Haus vorbeischauen, lasse sich trotzdem nicht beobachten, sagt Valentin Hacken. Er ist Sprecher des Bündnisses "Halle gegen Rechts", das nicht nur die Gegenproteste am Samstag mitorganisiert, sondern auch sonst ein Auge auf die Aktivitäten der "Identitären" in Halle hat.
Außerdem gebe es unermüdlich Gegenproteste. Wenn Veranstaltung im Haus stattfänden, stünden häufig auch Demonstranten davor auf der Straße. "Das sind zwar manchmal nur zwanzig Leute mit einem Infotisch. Aber auch dann ist die Polizei da und es ist sichtbar, dass was los ist." Nur selten gebe es die Möglichkeit, "zu einer Veranstaltung in dem Haus zu gehen und sich dabei zu denken: Ach, das ist ja nett und offen hier".
Dass die "Identitären" mit ihrem Ziel gescheitert seien, bestätigte vor wenigen Monaten sogar AfD-Politiker Andreas Lichert, der das Haus bis vor Kurzem verwaltet hat.
Die Demonstration am Samstag sollte deshalb vor allem ein Zeichen sein, glaubt Valentin Hacken. Ein Zeichen an die eigenen Leute, dass die Lage trotz der Kritik aus dem eigenen Lager gar nicht so schlecht ist. Die Aussagen Licherts hätten sicherlich auch einige Leute gelesen, die die "Identitären" mitfinanzieren, sagt Hacken. "Und für die müssen sie gerade ein bisschen Spektakel veranstalten und zeigen, dass sie das hier noch im Griff haben."
Schon vor Samstag hatte sich jedoch angekündigt, dass daraus wohl nichts wird. Statt, wie ursprünglich geplant, am Hauptbahnhof loszulaufen, verlegten die "Identitären" den Demo-Start vor ihr Haus. Die Route vom Bahnhof dorthin wäre so lang gewesen, dass eine Blockade durch Gegendemonstranten wahrscheinlich gewesen wäre.
Am Samstag wird jedoch schnell klar, dass auch diese Kalkulation nicht aufgeht. Die Zugänge rund um die Adam-Kuckhoff-Straße sind schon mittags von Gegendemonstranten blockiert. Weitere Rechtsextreme, die sich am Hauptbahnhof versammelt haben, werden gar nicht erst in die Richtung des "Identitären"-Hauses gelassen. Eine rechtsextreme Reisegruppe aus Bayern wird im Laufe des Nachmittags in der Innenstadt von der Polizei festgesetzt und zunächst mit Platzverweisen belegt.
Gegen 15:30 ist es dann offiziell: Die "Identitäre Bewegung" darf nicht laufen. Die Gegendemonstranten feiern ihren Erfolg, die Stimmung in der Adam-Kuckhoff-Straße ist gedrückt. Aus Boxen in den Fenstern dröhnen weiterhin rechtsextremer Rap und Lieder von Andreas Gabalier. Die Sonne heizt die Luft auf über 30 Grad auf. Rechtsextreme Aktivisten aus dem Ruhrgebiet, aus Bayern, Österreich und sogar aus Großbritannien sind nach Halle gefahren, um zu demonstrieren. Nun stehen sie, von Gegendemonstranten und Polizisten umringt, in der Hitze – oder sind nicht mal bis vor das Haus gekommen.
Spätestens mit der Verkündung des Demo-Verbots ist klar: Die "Identitären" sind heute gescheitert. Die Inszenierung geht dieses Mal nicht auf. Kurz später werden die ersten Grüppchen Rechtsextremer von der Polizei durch die Absperrungen gebracht. Der Tag endet für sie mit einem Heimweg unter lauten Schmährufen der Gegendemonstranten.