Die Demonstrationen und Krawalle in Chemnitz waren das Thema bei Anne Will. Sie fragte ihre Runde: Was folgt nun für Zivilgesellschaft und Politik?
Wolfgang Thierse zitierte einen Hilferuf auf einem Demonstrationsplakat: "Gebt Sachsen nicht auf" – so der Appell dort. In Chemnitz instrumentalisierten Hooligans, Rechte, Pegida und AfD die Trauer um Daniel H. für ihre Zwecke, so der Ex-Bundestagspräsident. Für den Altgenossen eine gefährliche Mischung. "Zum Hitlergruß darf auch der wütende Sachse nicht gehen", nahm er jene ins Gebet, die auf Demonstrationen auf eigene Zukunftsängste hinweisen wollten, dabei aber mit den Rechten marschierten.
Serdar Somuncu ergänzte, hier äußere sich der Frust über die Flüchtlingskrise. Angela Merkel habe mit ihrem Dekret "Wir schaffen das" 2015 eine Welle ins Rollen gebracht, ohne zu erklären, wie die Gesellschaft die Integration bewältigen soll. Die Menschen fühlten sich überfordert – obwohl in Ostdeutschland der Anteil an Flüchtlingen nur bei 4,4 Prozent liege. Chemnitz sei das Signal, einen Konsens zu finden, zu dem jeder Teil der Gesellschaft seinen Beitrag leisten solle.
Thierse widersprach vehement, was die Flüchtlinge angeht. "Wir sind genau in die Falle getreten, die uns die Rechtsextremisten gestellt haben", so der Sozialdemokrat. Schon in der DDR sei der Antisemitismus "üble Tradition" gewesen. Zudem hätten die Ostdeutschen auch traditionell keine Erwartungen gegenüber der Politik. Die Unzufriedenheit umfasse daher auch Fragen wie Pflege, Rente oder Sicherheit der Arbeitsplätze.
Wer von der Talkrunde Rabatz erwartete, wurde enttäuscht. Das Meinungsbild war ein durchweg harmonisches. Grundtenor? Aus Chemnitz müsse eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über die Parteigrenzen hinweg entstehen. Wollte die Stimmung mal überkochen, deklarierte die Runde den Aufschwung zum Eklat schnell als reines Missverständnis um.
Allein zu Beginn der Sendung schien die Stimmung zu kippen. Nämlich als Michael Kretschmer behauptete, die Polizei in Chemnitz habe am letzten Montag beim ersten Demonstrations-Krawall "klar gemacht, bei wem das Gewaltmonopol liegt." Anne Will sprach von Fehlverhalten der Polizei und fragte den Ministerpräsidenten, wie er das behaupten könne, wenn 591 Polizisten 7.500 Menschen gegenüber gestanden hätten. Olaf Sundermeyer sprang ihr bei. Deutungshoheit hätten "ganz klar" die Rechten gehabt. Kretschmer war sichtlich angefressen und sagte, die beiden Journalisten seien "nicht nah genug dran, um die Sache wirklich einschätzen zu können."
Kretschmer sagte auch noch: "Der Einsatz am Montag war kritisch, weil die Mobilisierung im Internet viel stärker war, als wir das geahnt hatten“ gibt Kretschmer zu. „Aber die Polizei hat das im Griff behalten. Die Beamten sind über sich hinausgewachsen.“
Das kam von Petra Köpping: "Für mich ist man, wenn man gegen rechts ist, einfach für die Demokratie". Dafür gab es Szenenapplaus. Das Zitat verdeutlichte aber auch die Herkulesaufgabe, die Köpping für die Politik in Sachsen sieht: mit den Bürgern der verschiedenen Kulturkreise ins Gespräch zu kommen.
Hierzu – als direkte Antwort auf Pegida – hat die sächsische Landesregierung die "Sachsengespräche" eingeführt. Das letzte fand – schon länger geplant – Ende der Woche in Chemnitz statt, just in Stimmung der aktuellen Krawalle hinein. Wills Runde griff das auf: Ob auf dem Treffen in Sachsens drittgrößter Stadt das Thema Flüchtlinge allein dominierend gewesen sei oder ob – nach dem Thierse-Ansatz – die Menschen im Freistaat viel tiefer gehende Sorgen und Verlustängste artikuliert hätten, fragte Will. Ersteres meinte zumindest Sundermeyer.
Stimmt das? Ja und Nein. In der Tat waren Gewalt von Migranten oder der Umgang mit der Asylpolitik Themen in der Diskussionsrunde, verbunden mit der Frage, ob man sich in Chemnitz noch sicher fühlen könne.
Aber auch die Personaldichte bei der sächsischen Polizei war ein Thema. Hinzu kam das Emotionale: etwa die Kritik an der Oberbürgermeisterin der Stadt, Barbara Ludwig, sie habe sich zu wenig vor die Bürgerinnen und Bürger gestellt. Auch die Medien wurden extrem gescholten, weil sie die Stadt als Hochburg der Rechtsextremisten darstellten.
Dieser Artikel erschien zuerst bei t-online.de