Pyrotechnik erhellte am Montagabend den Himmel über Bautzen.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Vor Ort
25.01.2022, 19:0426.01.2022, 08:02
Gegen halb acht Uhr fängt es an zu knallen. Wenige Meter von Mike Haubold entfernt zischen Feuerwerkskörper in die Luft, aus einer Menschentraube lautes Gebrüll, aus einem Lautsprecher in der Nähe dudelt ein Song von Nena. Es ist der Moment, an dem die Stimmung endgültig kippt bei dieser Corona-Demo am Montagabend im sächsischen Bautzen. Wieder einmal, wie bei so vielen Demos zuvor.
Viereinhalb Stunden vorher steht Mike Haubold auf dem Gelände der Bereitschaftspolizei in Dresden. Um ihn herum seine Gruppe, sieben weitere Polizisten und Polizistinnen. Haubold geht mit ihnen noch einmal die Anweisungen für den bevorstehenden Einsatz durch. Zumindest jene, die bereits bekannt sind. Über den Tag hinweg kann sich der Einsatz spontan weiterentwickeln. So ist das immer, bei der Bereitschaftspolizei, bevor sie zum Einsatz ausrückt. Beamte wie Mike Haubold werden immer dann gerufen, wenn es brenzlig wird.
An diesem grauen Montag im Januar wird der Trupp um den 25-jährigen Polizeikommissar in Bautzen erwartet, rund 60 Kilometer entfernt. Drei Versammlungen sind dort für diesen Abend bei der Versammlungsbehörde sozusagen angemeldet worden. Eine der Veranstaltungen ist ein Demonstrationszug. Bis zum 14. Januar durften sich in Sachsen nur höchstens zehn Menschen versammeln. Protestzüge, die sich durch die Stadt bewegten, waren komplett verboten. Mit der neuen Coronaverordnung ist das anders.
bild: imago / dirk sattler
Bis zu 1000 Menschen dürfen inzwischen wieder gemeinsam demonstrieren. Bereitschaftspolizist Haubold sagt mit Blick auf den Abend: "Jetzt geht es darum, dass die Abstände eingehalten werden – und dass dort, wo das nicht möglich ist, eine Maske getragen wird." Er rechnet allerdings nicht damit, dass sich die Demonstrierenden daran halten werden. Seine Gruppe hat schon mehrere Montage in Bautzen verbracht.
Mike Haubold ist Polizeikommissar in Dresden.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Nachdem die ersten Punkte geklärt sind, geht es los für Haubold und die anderen. Die acht Polizistinnen und Polizisten verteilen sich auf zwei Mannschaftswagen. Bekleidet sind sie jetzt schon mit Ganzkörperanzug, schusssicherer Weste und schweren Stiefeln, fünf Kilogramm wiegt die Ausrüstung. Und das Gewicht ist nicht das einzige, an das sich die Beamten gewöhnen müssen. Der Overall hat einen entscheidenden Nachteil: Der Gang zur Toilette ist aufwändig.
"Wir nutzen tatsächlich die Gelegenheiten, die sich bieten und versuchen wenig zu trinken", sagt Haubold. Eine solche Gelegenheit bietet sich glücklicherweise direkt nach der Ankunft in Bautzen: auf dem dortigen Polizeirevier. Ein kurzer Zwischenstopp auf dem Weg zum Fleischmarkt, dem Einsatzort.
Dort soll am Abend der Protestzug des Pflegepersonals starten. Haubolds Gruppe wird vor den Protestierenden laufen, eine andere Polizeigruppe dahinter. Doch zunächst warten sie, bis die Teilnehmenden auf dem Fleischmarkt eintreffen. Warten. Auch das gehört zu einem Einsatz der Bereitschaftspolizei. So lange wie möglich bleiben die Beamten im Auto, wärmen sich auf und nutzen die Möglichkeit noch kurz zu sitzen. Bevor sie an diesem Abend knapp 14.000 Schritte laufen werden.
Die Deomstrierenden halten Herzschilder nach oben.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Haubolds Achtergruppe ist Teil einer sogenannten Hundertschaft der Bereitschaftspolizei. Jede Hundertschaft besteht aus drei Zügen, jeder Zug aus drei Gruppen. Acht solcher Hundertschaften gibt es in Sachsen, alle zur Verfügung stehenden Kräfte sind an diesem Abend im Freistaat im Einsatz. Verteilt auf die angezeigten Veranstaltungen. Seine Anweisungen bekommt Haubold von seinem Zugführer, der wiederum bekommt Mitteilungen vom Hundertschaftsführer. An der Spitze der ganzen sächsischen Bereitschaftspolizei steht der Polizeiführer.
Gegen halb fünf Uhr stehen die Polizisten am Fleischmarkt. Noch ist der Platz leer.
Was Haubold an seinem Job fasziniert, ist die Unvorhersehbarkeit. Und die Tatsache, dass er so ganz Sachsen kennenlernt. Bei großen Lagen auch Städte außerhalb des Freistaates. "Wir haben mit den verschiedensten Personengruppen zu tun, das ist schon interessant", fasst er zusammen.
Haubold in voller Montur.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Immer wieder bekommt Haubold Funksprüche auf den Knopf in seinem Ohr. Gegen 17 Uhr geht er zum Auto, wie auch seine Kollegen, und zieht sich die nächsten zwölf Kilo Montur an: 17 Kilo hat er jetzt insgesamt am Körper, er ist fast doppelt so breit wie vorher. Über der schusssicheren Weste trägt er jetzt eine, die außerdem Schläge absorbiert. Auch seine Beine sind geschützt. Für seinen Kopf nimmt er einen Helm mit. Er wird ihn noch brauchen.
Kurz vor halb sechs beginnt sich der Platz zu füllen. Menschen mit Schildern in Herzform stehen dort. Menschen mit Lichterketten und Kerzen. Viele, die vorher noch am Straßenrand standen, trauen sich jetzt bis in die Mitte des Platzes. 2000 Menschen werden am Ende mitmarschieren. Doppelt so viele wie eigentlich erlaubt. Eine Ausnahme, heißt es später von der Polizei.
Die Pflegekräfte demonstrieren gegen die Impfpflicht.Bild: dpa-Zentralbild / Sebastian Kahnert
Manche der Demonstrierenden halten ein Transparent. "2G+ ab 16.3. heißt: Gesund, Getestet, Gefeuert", steht darauf. Das Pflegepersonal, das die Demo angemeldet hat, will gegen die Impfpflicht laut werden.
Der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Die Gruppe von Haubold – acht Einsatzkräfte, zwei Beamte, die den Einsatz dokumentieren – vorneweg, die Transparentträgerinnen hinterher. Dahinter: der Rest. Dokumentiert von etlichen Kameras. Fotoapparate und Handys auf Stativen, vermutlich für Livestreams Medienschaffender, die der Szene um die Corona-Demos nahestehen.
Die Gruppe, für die Haubold zuständig ist, wartet, dass sich der Demozug in Bewegung setzt.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Es ist still, Gesang oder Parolen sind vorne nicht zu hören, man hört fast nur das Getrappel der Polizistenstiefel auf dem Boden. In Zweierreihen laufen sie, und schnell. Lange dauert der Zug bis zum Landratsamt bei diesem Tempo nicht. Dort endet die Demonstration in Abschlusskundgebungen. Haubolds Gruppe postiert sich im Hof neben dem Landratsamt. Sichert das Objekt.
Auf dem Platz vor dem Landratsamt werden Reden gehalten. Kurz zusammengefasst: Impfpflicht ist doof, Gendern ist doof, die Medien sind doof. Die Menge grölt. Bei der Aufforderung, Abstand zu halten und Masken zu tragen, lachen sie. Niemand trägt einen solchen Schutz im Gesicht. Eine Gruppe von Demo-Teilnehmenden hat ihren Mund zwar verdeckt, allerdings weil sie vermummt sind. Nicht, weil sie einen Mund-Nasen-Schutz tragen.
Diese Vermummten haben die Bereitschaftspolizisten um Mike Haubold im Blick.
Und wieder heißt es Warten. Die Beamten stehen da, reden wenig. Sie strecken die Beine und den Rücken. Stecken ihre Hände in die Weste und ziehen sie wieder heraus. Steigen von einem Bein auf das andere. Bis die Veranstaltung endet.
Mit dem Ende der Redebeiträge setzt sich ein Demonstrationszug wieder in Bewegung – unangemeldet. An der Spitze: die Vermummten.
Ein Protestmarsch setzt sich nach Ende der offiziellen Veranstaltung in Bewegung.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Plötzlich geht alles sehr schnell. Haubolds Team formiert sich in Zweierreihen, mit großen Schritten versuchen sie sich vor den unangemeldeten Demozug zu setzen. Mit Erfolg. Eine Wand schwarz gekleideter, vermummter Personen läuft jetzt hinter der Polizei. Eine aggressive Grundstimmung macht sich breit.
An mehreren Kreuzungen bleibt Haubolds Gruppe stehen, wartet ab, wohin die Demonstrierenden laufen. Setzt sich wieder vornedran. Bis offensichtlich eine neue Order über das Funkgerät kommt: Haubolds Gruppe bleibt kurz stehen und positioniert sich rechts des Demozuges. Eine weitere Polizeigruppe läuft auf gleicher Höhe auf der anderen Seite der Demonstrierenden. Die Bürger auf der Straße, die Polizei auf dem Bürgersteig. Die Beamten setzen ihre Helme auf.
Von der Straße her wird gepöbelt. "Ach, da seid ihr ja wieder", sagt eine Demonstrantin. "Ich hab euch ja schon fast vermisst, haha", fährt sie fort. Sie stimmt gemeinsam mit den Menschen um sie herum den Imperiumsmarsch aus Star Wars an. Die Polizisten reagieren nicht. Auch nicht, als einer der Demonstrierenden von der Seite fragt, ob die Beamten nicht lieber auf Seite der Protestierenden wären.
"Das perlt natürlich nicht komplett ab und gerade wenn Böller gezündet werden und sie dann schreien ‘Helme ab’ bin ich schon wütend."
Mike Haubold, Polizeikommissar
Weiter hinten im Protestzug ist die Stimmung eine völlig andere: Ist sie vorne aggressiv, ist es dort eher familiär. Die Menschen quatschen. Auch die eine oder andere Lichterkette ist wieder zu sehen. Es wird klar, was Haubold meint, wenn er sagt, man dürfe die Demonstrierenden nicht pauschalisieren. Es läuft Musik von Helene Fischer. Ob den Menschen dort hinten bewusst ist, dass der eigentliche Demozug vorbei ist, ist unklar. Stoppen tun aber auch sie nicht.
Auf Fischer folgt Nena. Plötzlich, vorne am Demonstrationszug, ein lauter Knall.
Sofort ist die Dokumentationseinheit in Haubolds Team bereit. Die Dokumentationseinheit, das sind zwei Beamten, die mit Kameras ausgestattet sind. Sie filmen nur, wenn es zu strafbaren Handlungen im Demonstrationsgeschehen kommt. So lässt sich später nachvollziehen, was passiert ist, oder wovon die Situation ausging. Ein rotes Leuchten macht sich über dem Protestzug breit. Am Himmel explodieren Feuerwerkskörper, während Nena aus dem Lautsprecher grölt und die Masse "Helme ab" und "Wir sind das Volk" skandiert.
Während des Aufzuges werden Bengalos und Böller gezündet.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Nach dem Einsatz wird Mike Haubold sagen: "Das perlt natürlich nicht komplett ab und gerade wenn Böller gezündet werden und sie dann schreien ‘Helme ab’, bin ich schon wütend. Nach außen versuche ich das aber nie zu zeigen. Auch, wenn das natürlich manchmal nicht gelingt." An diesem Montag ist es ihm gelungen, seine Wut herunterzuschlucken. Wie dem Rest seines Teams.
Später wird sich auch herausstellen, dass ein Einsatzfahrzeug und ein weiteres Auto durch die Pyrotechnik beschädigt worden sind.
Der Protestzug passiert eine weitere Versammlung. Auch dort demonstrieren Menschen gegen die Impfung und gegen die Maßnahmen, es läuft das Lied "Freiheit" von Marius Müller-Westernhagen. Manche bleiben dort. Viele der Laufenden lassen sich allerdings nicht aufhalten. Weiter geht es durch Bautzen.
Die Polizisten sperren eine Straße.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Bis sich der Protestzug in einer schmalen Straße befindet. Es kommt Tempo in die Sache: Mannschaftswagen mit Blaulicht fahren vor. Die einzelnen Polizeigruppen formieren sich, um die Demonstrierenden am Weiterlaufen zu hindern. Und daran, wieder zurückzulaufen. Auf beiden Seiten wird ihnen der Weg abgeschnitten. "Dynamische Situation" nennen die Beamten diese Lage. Anders gesagt: Es ist ein Gewusel. Demonstrierende rennen, flüchten in die Hinterhöfe.
"Ihr seid eine Schande für dieses Land", krakeelen manche von ihnen den Beamten entgegen. Einer, der von der Polizei gestellt wird, schreit: "Muss das sein? Dass ihr einfach einen friedlichen Zug so aggressiv auflöst. Muss das sein?" Eine Antwort bekommt er nicht, stattdessen wird er abgeführt. Und tobt dabei weiter.
Wenig später ist die Lage wieder ruhig. Die letzten Demonstrierenden verlassen den Ort und gehen. Nicht ohne zu schimpfen. Nicht ohne die Beamten zu beleidigen. Die Polizisten stehen weiterhin auf der Straße. Bis die Order kommt, aufzulösen. Erst dann finden sich die einzelnen Gruppen zusammen. Haubold fragt, ob es allen gut geht. Ob im Einsatz irgendwas verloren wurde. Sein Team ist vollzählig und hat den Zugriff gut überstanden.
"Wir haben uns gesagt, dass wir einen Aufzug nur stoppen werden, wenn gewaltsame Aktionen oder Straftaten begangen werden."
Kai Siebenäuger, Sprecher der Polizeidirektion Görlitz
"Wir müssen jetzt erstmal kurz runterkommen", sagt Haubold. Der Aufzug hat sich aufgelöst, die Anspannung fällt ab. Kurz darauf geht es zurück zu den Mannschaftswagen auf den Fleischmarkt. Unterwegs wird gequatscht. Die langsame Entspannung ist der gesamten Gruppe anzumerken. Bei den Autos angekommen wird erstmal eine kurze Pinkelpause eingelegt. Die Autos werden auf Schäden überprüft. Andere Beamten rauchen oder trinken Wasser, ehe sie sich in die Autos setzen, um zurück zum Ort des Geschehens zu fahren. Dort wird sich die Gruppe mit ihrem Zugführer über den Einsatz austauschen.
Das Abbrennen von Pyrotechnik ist auf Demonstrationen verboten.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Kai Siebenäuger, Sprecher der Polizeidirektion Görlitz, fasst den Abend folgendermaßen zusammen: "Wir haben die Menschen auf die Maskenpflicht angesprochen, aber dass da wenige dieser Aufforderung nachkommen, hat uns nicht überrascht." Dennoch sei im Rahmen der Verhältnismäßigkeit gehandelt worden. "Wir haben uns gesagt, dass wir einen Aufzug nur stoppen werden, wenn gewaltsame Aktionen oder Straftaten begangen werden. Und so war es auch, als auf Einsatzfahrzeuge Bengalos geworfen wurden", führt er fort. Zwei Tatverdächtige seien gestellt worden. Wäre der Aufzug friedlich geblieben, hätte die Polizei ihn auch nicht gestoppt.
Komplett zufrieden wirken die Beamten an diesem Abend nicht. Trotzdem ist Mike Haubold froh, seine schwere Schutzkleidung abzulegen. "Es fühlt sich gut an, die zwölf Kilogramm los zu sein, vor allem weil wir heute wirklich weit gelaufen sind", sagt er. Zurück in Dresden wird der Einsatz noch einmal von den Führungskräften besprochen, auch um für den nächsten zu lernen.
Mike Haubold freut sich aber auch schon auf sein Bett.