Symbolbild.Bild: imago/Westend61/mareen fischer
Familie & Freunde
Das hätten sich die Müllers nicht träumen lassen: Die Suche nach einem Kita-Platz für ihr Töchterchen ist so schwierig – trotz Rechtsanspruchs. Sie ziehen vor Gericht.
20.08.2019, 16:4120.08.2019, 19:44
julia giertz, dpa
Das Ehepaar Müller genießt die gemeinsame
Zeit mit seiner zweijährigen Tochter Lisa (Namen von der Redaktion
geändert), doch die beiden Akademiker wollen auch arbeiten. Kind und
Job unter einen Hut zu bringen, macht ihnen die Stadt Stuttgart nicht
leicht. In zwei aufeinanderfolgenden Jahren bewarben sie sich
erfolglos um einen Platz in einer öffentlichen Kita. Dabei hatten sie
nicht nur alle Fristen eingehalten, sondern auch ihren Rechtsanspruch
geltend gemacht. "Wir standen in drei Einrichtungen auf Platz 120, 80
und 41 der Warteliste", erinnert sich Alexandra Müller. Grund:
Erzieherinnenmangel.
Doch das Problem lautet: Personalmangel. Laut Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
(GEW) fehlen bundesweit 100.000 Fachkräfte in den Kitas.
Kita-Krise: Familie Müller ist kein Einzelfall
Lisa gehört zu den mehr als 6800 Stuttgarter Kindern, darunter mehr
als 4600 unter drei Jahren, die im vergangenen Kindergartenjahr beim
städtischen Träger leer ausgegangen sind. Das Mädchen startet nun in
das zweite Kita-Jahr in einer privaten Einrichtung in
Leinfelden-Echterdingen, einer Nachbarkommune der reichen
Landeshauptstadt. Familie Müller ist kein Einzelfall: Laut einer
Studie des Deutschen Jugendinstituts liegt die Nachfrage bei den
unter Dreijährigen noch um zwölf Prozentpunkte über dem Angebot.
In München sind in den städtischen Kindertageseinrichtungen derzeit
rund 9,7 Prozent der Fachkraftstellen und rund 7,4 Prozent der
Stellen für Ergänzungskräfte wie Kinderpflegerinnen nicht besetzt.
"In den nicht-städtischen Einrichtungen in München und
deutschlandweit ist die Situation vermutlich vergleichbar", sagt
Ursula Oberhuber, Sprecherin der Stadt. Punktuell würden längere
Randzeiten eingeschränkt, bei Kita-Neueröffnungen werde nicht mit
voller Auslastung gestartet. Die Lage werde noch schwieriger, zögen
doch junge Familien in die Metropole mit ihrem Angebot an
Arbeitsplätzen und hohem Freizeitwert.
"Man fühlt sich wie Don Quijote"
Die Notleidenden sind die Eltern, die wie die Müllers bei der
Durchsetzung ihres Rechtsanspruchs in die Mühlen der Bürokratie
geraten. "Man fühlt sich wie Don Quijote", erzählt Michael Müller.
Auch Elternvertreterin Ulrike Grosse-Röthig sagt: "Wir spüren den
Fachkräftemangel ganz deutlich." Die Sprecherin der
Bundeselternvertretung der Kinder in Kindertageseinrichtungen und
Tagespflege nennt als Folgen: weniger Personal pro Kind, verkürzte
Öffnungszeiten und Absagen, obwohl theoretisch Plätze vorhanden sind.
"Viele Erzieherinnen gehen jetzt in Rente und der Nachwuchs fehlt",
erläutert Grosse-Röthig. Der Beruf habe auch Imageprobleme. "Wir
haben zehn Jahre den Lehrerberuf schlechtgeredet. Jetzt passiert das
gleiche mit den Erzieherinnen."
Grosse-Röthig rechnet mit weiter steigendem Personalmangel, der durch
den Rechtsanspruch auf einen Besuch der Ganztagsschulen von 2025 an
verschärft wird. Stephan Wassmuth, Vorsitzender des Bundeselternrats,
ist überzeugt: "Das kann nur mit multiprofessionellen Teams
funktionieren, da brauchen wir auch Erzieher." Auch das
Erzieher-Gehalt sei lange nicht angehoben worden. "Das hat man viel
zu lange schleifen lassen", sagt Wassmuth. Der Großteil der
Erzieherinnen verdient derzeit laut GEW um die 3500 Euro brutto.
Lücken stopfen mit Quereinsteigern
Nicht nur an Quantität, sondern auch an der Qualität im
Erziehungswesen hapert es. "Alle Länder sind meilenweit entfernt vom
Personalschlüssel, den die Wissenschaft für gute pädagogische Arbeit
für notwendig erachtet", sagt Björn Köhler, GEW-Vorstandsmitglied für
Jugendhilfe. Der liege bei acht Drei- bis Sechsjährigen pro Kraft und
bei drei Kleinkindern pro Kraft. Überdies zählten die Kitas als
"Kraft" auch Mitarbeiter, die nicht die erforderliche pädagogische
Qualifikation mitbrächten. "Viele Länder stopfen ihre Lücken mit
Quereinsteigern", sagt Köhler und verweist auf eine Positivliste des
Hamburger Senates mit Berufsbildern, die nach einem Schnellkurs für
die Arbeit in Kitas in Betracht kommen. Zugetraut werde das vom
Schreinermeister bis zum Diplomingenieur.
Elternvertreterin Grosse-Röthig hätte nichts gegen einen Schreiner,
der den Kindern wertvolle Tätigkeiten beibringen könne. "Was wir
kritisch sehen ist, wenn Menschen ohne jegliche Qualifikation die
Betreuung übernehmen." Kitas seien keine Verwahranstalten, sondern
Bildungseinrichtungen. Deshalb müsse der Bund mehr investieren: Die
Mittel von 5,5 Milliarden Euro aus dem "Gute-Kita-Gesetz" bis 2022
seien ein Bruchteil dessen, was eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe 2012
als Bedarf festgestellt habe – dauerhaft zehn Milliarden Euro
jährlich.
Kommunen und Städte locken Erzieherinnen und Erzieher mit vielen Anreizen
Kommunen locken im Wettbewerb um die begehrten Fachfrauen mit
allerlei Anreizen: In der bayerischen Landeshauptstadt gibt es eine
München-Zulage (133.87 Euro) und eine Arbeitsmarktzulage für
Mangelberufe (200 Euro), die kombinierbar sind. Stuttgart versucht
etwa, mit übertariflicher Bezahlung, günstigen Personalzimmern, in
der Regel unbefristeten Verträgen sowie stark vergünstigten
Nahverkehrs-Monatstickets Erzieherinnen und solche, die es werden
wollen, zu ködern.
Schreckte bis vor kurzem so manche Interessentin die lange Ausbildung
von fünf Jahren sowie das teils erhobene Schulgeld ab, gibt es als
Alternative seit einigen Jahren die Praxisintegrierte Ausbildung
(PiA). Diese dauert drei Jahre und wird bezahlt, im ersten Jahr mit
mehr als 1000 Euro. Sie ist auch für Männer interessant, deren Zahl
sich etwa in Baden-Württemberg von 87 im ersten PiA-Jahrgang 2012/13
auf 689 im Jahrgang 2018/19 erhöhte.
700 Euro im Monat für den Kita-Platz
Doch von den Früchten all dieser Bemühungen hat Familie Müller
nichts. Die Eltern zahlen für den Kita-Platz ihrer Tochter 700 Euro
im Monat. Die öffentliche Kita hätte sie nur 300 Euro gekostet. Die
Differenz – insgesamt 7000 bis 8000 Euro – versuchen sie gerade, per
Gericht einzuklagen. Damit sind sie nicht die einzigen: 2018 gingen
beim Verwaltungsgericht Stuttgart 34 Klagen wegen Kinderbetreuung
ein, 2019 bislang 16. In München waren es seit der Einführung des
Rechtsanspruchs auf eine Krippenplatz im August 2013 165 Verfahren.
Für die Müllers und ihre Mitstreiter hat sich die Rechtslage seit
einem bundesgerichtlichen Urteil 2017 verschlechtert: Eltern, die ihr
Kind mangels städtischem Kita-Platz und wegen unpassender
Tagespflege-Zeiten in eine teurere Privat-Kita bringen, haben nach
Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig (BVerwG 5 C 19.16)
nicht unbedingt Anspruch auf Erstattung der Mehrkosten.
(as/dpa)
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