Boris Johnson kennt sich aus mit Skandalen. Der britische Premierminister beurlaubte 2019, wenige Wochen nach seinem Amtsantritt, das britische Unterhaus, die mächtigste Kammer des Parlaments – und löste heftige Proteste aus. Er ließ Anfang 2020 Journalisten von einem Pressebriefing ausschließen.
Und seit Beginn der Covid-19-Pandemie hat er mit heftigen Kurswechseln international Aufmerksamkeit erregt: von einer kolossal gescheiterten Strategie der Durchseuchung im Frühjahr 2020 über harte Lockdown-Maßnahmen und zurück zu einem "Freedom Day" im Sommer 2021, mit der Aufhebung aller Corona-Maßnahmen.
Boris Johnson, seit zweieinhalb Jahren an der Spitze der Regierung Großbritanniens, hat alle Krisen überstanden. Bisher. Jetzt bröckelt seine Macht schnell und heftig.
Der Premier, der für seine konservative Partei im Dezember 2019 einen triumphalen Sieg bei der Parlamentswahl geholt hatte, ist inzwischen enorm unbeliebt in der britischen Bevölkerung: 73 Prozent haben laut einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts YouGov eine negative Meinung über Johnson. Es ist der mit deutlichem Abstand schlechteste Wert seit seinem Amtsantritt.
Die Konservative Partei ist ebenfalls im Sinkflug: Eine repräsentative You-Gov-Umfrage für die Zeitung "The Times" ergab, dass die Tories, wie sie traditionell genannt werden, inzwischen zehn Prozentpunkte hinter der sozialdemokratischen Labour Party liegen, der anderen großen Partei in Großbritannien. So groß war der Rückstand seit 2013 nicht mehr. Eine wachsende Zahl konservativer Politiker scheint zu befürchten, mit Johnson an der Spitze die nächsten Wahlen zu verlieren.
Er habe einem mächtigen Ausschuss der konservativen Abgeordneten ein Misstrauensschreiben gegen Johnson vorgelegt, erklärte am Freitag Andrew Bridgen, ein früherer treuer Johnson-Unterstützer. Äußern sich 54 der 360 konservativen Abgeordneten im Parlament ähnlich, wird das Rennen um einen Nachfolger ausgelöst – falls Johnson nicht von selbst zurücktritt. Der "Telegraph" berichtete, dass bereits 30 Abgeordnete Briefe verschickt hätten.
Worum geht es? Wie brenzlig ist die Lage für Boris Johnson tatsächlich? Und wie hat er als Premier Großbritannien verändert? Ein Überblick.
"Bringt Euren eigenen Alkohol mit": Was Johnson vorgeworfen wird
Johnson steht wegen Verstößen gegen die Corona-Regeln während des ersten Lockdowns im Mai 2020 massiv unter Druck. Am Mittwoch hatte er im britischen Parlament den Besuch einer Gartenparty am Regierungssitz in der Downing Street eingeräumt und um Entschuldigung gebeten. Damals befand sich das Land ebenfalls im strikten Corona-Lockdown und selbst Treffen von mehr als zwei Menschen im Freien waren verboten.
"Bring your own booze", bringt euren eigenen Alkohol mit", stand indes laut mehreren übereinstimmenden Medienberichten in einer E-Mail, mit der damals zur Party in der Downing Street eingeladen wurde.
Ende der vergangenen Woche wurde dann noch bekannt, dass Mitarbeiter des Büros von Johnson auch im April 2021 zwei ziemlich ausgelassene Feiern steigen ließen – während des zweiten, langen und besonders strikten Corona-Lockdowns in Großbritannien und noch dazu am Vorabend der Beerdigung von Prinz Philip, Ehemann der britischen Königin Elizabeth II.
Die Trauerfeier für Philip fand damals nur im engsten Familienkreis statt. Aufgrund der Pandemie waren für Beisetzungen nur 30 Menschen zugelassen. Die Bilder der trauernden und wegen Corona-Regelungen allein auf einer Bank in der St.-George-Kapelle von Schloss Windsor sitzenden Königin hatten im April Menschen in der ganzen Welt berührt.
Die britische Königin Elizabeth II. am 17. April 2021, bei der Trauerfeier für ihren Ehemann Philip. Bild: dpa / Jonathan Brady
Bei der von Johnsons Büro organisierten Party sollen derweil rund 30 Mitarbeiter bis spät in die Nacht hinein Alkohol getrunken und zu Musik getanzt haben. Ein Mitarbeiter soll sogar mit einem Koffer zu einem nahe gelegenen Supermarkt gegangen sein, um ihn mit Weinflaschen zu füllen, und diesen dann heimlich wieder in die Downing Street geschmuggelt haben, berichtete die Zeitung "Daily Telegraph".
Wie es jetzt weitergehen könnte
Für Nicolai von Ondarza, Politikwissenschaftler und Experte unter anderem für britische Politik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, droht Boris Johnson tatsächlich der Machtverlust. Gegenüber watson erklärt er: "Die Reihe an Skandalen entwickelt sich zu einer sehr ernsten Krise für Boris Johnson."
Für Johnson, schreibt von Ondarza, sei das "größte Pfand" bei den Konservativen immer gewesen, "dass er im Volk beliebt war und Wahlen gewonnen hat". Jetzt sei "fraglich", ob er sich von seinem Vertrauens- und Beliebtheitsverlust erholen könne.
Ob der Premier diese Krise doch noch überstehen kann, hängt für von Ondarza davon ab, ob weitere Enthüllungen über Fehlverhalten Johnsons folgen – und davon, ob die Konservative Partei in der Lage ist, eine mögliche Nachfolgerin oder einen Nachfolger für den Premier zu finden.
Von Ondarza meint:
"Gestürzt werden kann er aber nur von den konservativen Abgeordneten. Es ist daher noch abzuwarten, ob er politisch die nächsten Tage überlebt und eine Chance bis zu den Regionalwahlen im Mai bekommt, oder – mit möglicherweise neuen Enthüllungen – die Abgeordneten ihn schon bald zum Rücktritt zwingen."
Johnson selbst scheint bisher keinen Anlass zu sehen, zurückzutreten. Die britische Zeitung "The Times" zitiert einen namentlich nicht genannten Vertrauten des Premierministers mit den Worten: "Er wird nicht zurücktreten, er ist ein Kämpfer. Er ist eine Naturgewalt. Wenn es jemanden gibt, der das durchstehen kann, ist er es." Andreas Lenz, CSU-Abgeordneter im Deutschen Bundestag und dort Vorsitzender der deutsch-britischen Parlamentariergruppe, teilt watson mit, er halte es "momentan für nicht wahrscheinlich, dass Boris Johnson von sich aus zurücktritt."
Angegriffen: Boris Johnson im britischen Unterhaus, links von ihm Abgeordnete der oppositionellen Labour Party.Bild: imago images / House Of Commons
Für den Fall, dass Johnson doch den Hut nimmt, liegt der Ball bei den britischen Konservativen. Das liegt am Wahlsieg von 2019 – und der komfortablen Mehrheit, die die die Partei seither im britischen Unterhaus hat. Politologe von Ondarza schreibt dazu auf Anfrage von watson:
"Dank Johnsons Wahlsieg 2019 haben sie eine sichere absolute Mehrheit und würden dann in einem Partei-internen Prozess seinen Nachfolger oder seine Nachfolgerin als Parteichefin oder -chef und Premierministerin oder Premierminister bestimmen. Das letzte Wort hat hier die konservative Basis, welche inhaltlich weiterhin hinter dem politischen Kurs von Boris Johnson steht: also ein harter Brexit, eher liberale Corona-Regeln und eine konservative Wertepolitik. Dem neuen Premierminister oder der neuen Premierministerin werden die Konservativen dann erst einmal Zeit geben, Neuwahlen sind vor 2023 nicht zu erwarten."
Wie Boris Johnson Großbritannien verändert hat
Der Brexit, der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, hat Boris Johnson an die Spitze der Macht im Land gebracht. Der vorherige Bürgermeister der Hauptstadt London und umstrittene Journalist war erst in den Monaten vor dem Brexit-Referendum 2016 einer der lautesten Stimmen für den Austritt.
Dann war Johnson lange der menschliche Stachel im Fleisch von Premierministerin Theresa May, die am Ende keine Mehrheit im Parlament für ihren Vorschlag eines Brexit-Deals mit der EU bekam. Daraufhin wurde er im Sommer 2019 selbst Mehrheitsführer der Konservativen – und daraufhin von Königin Elizabeth II. zum Premier ernannt.
In Johnsons bisheriger Amtszeit sieht Politologe Nicolai von Ondarza Licht und Schatten. Er fasst seine Einschätzung gegenüber watson so zusammen:
"Boris Johnson Amtszeit war von zwei großen Themen bestimmt – dem Brexit und der Covid-Pandemie. In beiden Bereichen ist seine Bilanz umstritten. Beim Brexit hat er sein Ziel einer harten Trennung mit der EU durchgesetzt, und wird dafür weiterhin von den Brexit-Befürwortern gefeiert. Allerdings bleibt die Nordirland-Frage ungelöst, das Vertrauensverhältnis zur EU hat deutlich gelitten und die wirtschaftlichen Folgen mehren sich. In der Corona-Pandemie in der Impfstoffbeschaffung einen großen Erfolg erzielt, sodass das Vereinigte Königreich deutlich vor den anderen EU-Staaten eine hohe Impfquote erreicht hat. Durch späte Lockdown-Entscheidungen und einen Wechselkurs bei anderen Maßnahmen gehört Großbritannien dennoch zu den Ländern weltweit mit den meisten Todesopfern. Seine wirtschaftliche Transformationsagenda ('Levelling Up') konnte er bisher noch kaum angehen."
David McAllister, deutscher CDU-Abgeordneter im Europäischen Parlament und dort Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, sieht bei Johnson eine erhebliche Mitverantwortung für mehrere ungelöste Probleme, vor denen Großbritannien steht.
Gegenüber watson erklärt McAllister:
"Premierminister Boris Johnson ist für den besonders harten Austritt des Vereinigten Königreich aus der Europäischen Union maßgeblich verantwortlich. Die daraus resultierenden Probleme müssen gelöst werden, insbesondere mit Blick auf das Protokoll zu Irland und Nordirland. Hier ist die britische Regierung aufgefordert, praktisch umsetzbare Vorschläge zu machen."
Der CSU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzender der deutsch-britischen Parlamentariergruppe Lenz blickt positiver auf Johnsons Politik, gerade was die Beziehung zu Deutschland angeht. Er meint:
"Die Regierung Johnson ist sehr bemüht, die Beziehungen nach dem Brexit zu stärken, auch Boris Johnson persönlich."
Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel im Juli 2021 mit Boris Johnson. Bild: dpa / Andrew Parsons
Lenz verweist auf die im Sommer 2021 angekündigten britisch-deutschen Freundschaftsvertrag, der regelmäßige Beratungen zwischen den Regierungen beider Staaten vorsieht. Großbritannien und Deutschland täten "gut daran, eine intensive Beziehung zu bewahren".
Der Europaabgeordnete McAllister sieht das ähnlich. Für ihn bleibt das Vereinigte Königreich ein "enger Partner für die Europäische Union und für Deutschland". Die deutsch-britische Freundschaft sei "fest verankert", es gebe "zahlreiche familiäre Verbindungen". "Das gilt unabhängig von politischen Personalien in London", schreibt McAllister.
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