Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, inspiziert die Befestigungslinien in der Region von Charkiw.Bild: Ukrainian Presidential Press Off / Uncredited
Analyse
Seit Tagen warnt die Ukraine vor einer russischen Offensive gegen die Großstadt Charkiw im Osten des Landes. Präsident Wolodymyr Selenskyj versichert "maximale Anstrengungen" für den Schutz und die Unterstützung der Millionenstadt. Der Syrien-Krieg hat gezeigt, wie brutal Russland vorgeht, um eine Millionenstadt wie Charkiw einzunehmen.
Damals stand die syrische Stadt Aleppo im Fokus, die Russland dem Erdboden gleich machte. Die EU-Staaten kritisierten die Bombardierung der Stadt damals scharf, Menschenrechtsorganisationen sprechen von Kriegsverbrechen. Zum Hintergrund: Im Jahr 2015 griff Russland an der Seite des syrischen Diktators Baschar al-Assad in den Bürgerkrieg ein.
Im Zuge des Bürgerkriegs in Syrien war Aleppo seit 2012 umkämpft. 2015 bombardierte Russland die Stadt.Bild: imago images/ imago stock&people / ZUMA Press
Ukraine-Krieg: Droht Charkiw das gleiche Schicksal wie Aleppo?
Politik-Wissenschaftler und Sicherheits-Experte Nico Lange befürchtet offenbar eine Wiederholung. Auf der Plattform X fragt er demnach: "Wollen wir zulassen, dass Putin aus der Millionenstadt Charkiw ein neues Aleppo macht, die Stadt zerstört und die Menschen vertreibt?"
Die ostukrainische Grenzregion Charkiw ist seit mehreren Wochen besonders heftigen Angriffen aus der Luft ausgesetzt. Mittlerweile sollen Behörden die Zwangsevakuierung von Kindern und ihren Familien angeordnet haben. Es handele sich um Gemeinden in den drei Landkreisen Bohoduchiw, Isjum und Charkiw, teilte der Militärgouverneur des Gebiets, Oleh Synjehubow, am Donnerstag per Telegram mit.
Expert:innen gehen durchaus davon aus, dass Russland es auch auf die Gebietshauptstadt abgehen hat.
"Im schlimmsten Syrien-Stil bombardiert Russland Charkiw, um die Menschen zu vertreiben", schreibt Lange auf X. Die Partner der Ukraine haben ihm zufolge noch immer nicht geklärt, was sie mit der militärischen Unterstützung erreichen wollen und gucken sich gegenseitig an, dass "jemand mehr machen müsste".
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Vor allem brauche die Ukraine eine verstärkte Luftverteidigung, meint Selenskyj. "Wir arbeiten mit unseren Partnern an der Stärkung des Luftverteidigungssystems, um den russischen Plänen für Charkiw zu begegnen", verkündet er in einer seiner Videoansprachen. Kiew werde alles tun, um die Stadt besser vor russischen Angriffen zu schützen.
Dabei fand bereits im Februar 2022 ein Sturm auf die Stadt statt und schlug massiv sowie blutig fehl, sagt Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov auf watson-Anfrage. Er analysiert und verfolgt den Kriegsverlauf in der Ukraine an der Freien Universität Berlin.
Experte wagt Prognose, ob Russland Charkiw einnehmen könnte
"Die Debatte um einen möglichen zweiten russischen Sturm auf Charkiw hält schon länger an. Nun wird über einen zweiten Versuch diskutiert", führt er aus. Allerdings müsst dabei stark zwischen Charkiw Stadt und Charkiw Land unterschieden werden. Dabei gibt er Entwarnung.
Einen Frontalangriff auf die Millionenstadt Charkiw halte Gerasimov persönlich für extrem unwahrscheinlich. Seine Begründung: Die Einnahme einer solchen Metropole, die zudem auch noch so stark befestigt ist, bedürfte einer separaten Armeegruppierung von Zehntausenden Mann mit absoluter Luftüberlegenheit.
Diese Kapazitäten haben russische Streitkräfte in der Region derzeit nicht, laut seiner Einschätzung. Eine russische Offensive in Charkiwer Land sei dagegen durchaus wahrscheinlich. Der Experte sagt dazu:
"Die rhetorische Umspielung dafür lieferte der Kreml schon vor Wochen. Bereits Mitte März erklärte Wladimir Putin, es könnte notwendig werden, eine 'Sanitätszone' auf ukrainischem Gebiet entlang der Grenze zu errichten."
In der Praxis würde dies eine russische Offensive von mindestens 40 Kilometern Tiefe in der Region Charkiw bedeuten, analysiert Gerasimov. Ob der Kreml dafür die personellen Kapazitäten hat, ohne eine zusätzliche Mobilisierungswelle auszurufen, sei unklar.
Hat Kreml-Chef Wladimir Putin die nötigen Ressourcen, Charkiw einzunehmen? Bild: Pool Sputnik Kremlin / Gavriil Grigorov
Zumindest schreiben kremlnahe Quellen, dass eine neue russische Mobilmachung nicht geplant sei, sagt der Konfliktbeobachter. Kremlkritische russische Quellen schreiben hingegen, dass dies innerhalb der nächsten sechs Monate zu erwarten sei.
"Die Einnahme dieser Stadt wäre für Russland in allen Hinsichten – militärisch, politisch, propagandistisch – ein absoluter Coup."
Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov
In jedem Fall rüstet sich die Ukraine derzeit massiv für die Verteidigung von Charkiw. Denn: "Der Verlust dieser Metropole wäre für Kiew ein Desaster", sagt Gerasimov.
Mit dem Fall von Charkiw wäre die gesamte Ostukraine wohl nicht haltbar
Charkiw sei die wichtigste ukrainische Großstadt in der Nähe der russischen Grenze und ein Bollwerk der gesamten Region. "Die Einnahme dieser Stadt wäre für Russland in allen Hinsichten – militärisch, politisch, propagandistisch – ein absoluter Coup", warnt der Experte.
Mit dem Fall dieser Stadt wäre seiner Einschätzung nach beinahe die gesamte Ostukraine nicht mehr zu halten. Die nächste größere Metropole befindet sich rund 130 Kilometer westlich bei Poltawa. "Der politische Schaden für Selenskyj wäre so stark, dass er vermutlich sowohl von innen als auch außen zum Rücktritt gedrängt worden wäre", prognostiziert er.
Dennoch: Zusammenfassend lässt sich laut Gerasimov betonen, dass ein Eroberungsversuch von Charkiw Stadt extrem unwahrscheinlich bleibt. Russische Offensiven in der Umgebung Charkiwes könnten aber stattfinden und würden sich in Putins Ankündigungen einreihen, wonach eine "Sanitätszone" entlang der Grenze etabliert werden müsse.
Nach bald drei Jahren hat die Ukraine kaum noch Optionen, um den Krieg gegen Aggressor Russland militärisch zu gewinnen. Besiegt ist das geschundene Land deswegen aber nicht.
Am Dienstag ist es 1000 Tage her, seit der russische Autokrat Wladimir Putin den Befehl zur Invasion der Ukraine gab. Nun beginnt der dritte Kriegswinter. Er droht in der Ukraine "besonders kalt und dunkel zu werden", so der österreichische "Standard". Denn russische Luftschläge haben die Energieversorgung hart getroffen, zuletzt am Wochenende.