Die Stimmung zwischen Wladimir Putin (r.) und dem kasachischen Präsidenten Tokajew ist angespannt. Kasachstan lehnt den Ukraine-Krieg ab, denn sie wissen: "Wir könnten die nächsten sein." Bild: IMAGO/SNA / Mikhail Klimentyev
Analyse
Es ist eine schwierige Beziehung. Was einst Familie war, wirkt jetzt weit weg, was einst Unterstützung war, ist jetzt ein Spiel mit der Angst. Russland und Kasachstan – die Stimmung wird kühler.
Seit der Invasion Russlands in die Ukraine hat sich die Dynamik verändert. Das zentralasiatische Steppenland geht auf Distanz und der "große Bruder" fährt die Krallen aus. Putins Hetzer senden verbale Drohungen an das kasachische Volk.
Sind sie ernst zu nehmen oder ist es nur Gebrüll des russischen Bären, der sich momentan die Zähne an der Ukraine ausbeißt?
Kasachstan und Russland waren stets enge Verbündete, doch der Krieg in der Ukraine hat die Dynamik verändert.Bild: www.imago-images.de / imago images
Eines ist klar: Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat viele Kasach:innen aufgerüttelt. Das beobachtet der Sozialwissenschaftler Azamat Junisbai vom Pitzer College in Kalifornien. Selbst jene, die vorher nichts mit Politik am Hut hatten, seien am Geschehen interessiert. "Denn es ist so real: Es hätte auch Kasachstan sein können oder wir könnten die nächsten sein", sagt der gebürtige Kasache gegenüber watson.
Russische Propagandisten: Kasachstan ist nächstes Problem
Der einflussreiche Propagandist Wladimir Solowjow tauscht dazu gefährliche Worte mit Kollegen in seiner Talkshow aus. "Kasachstan ist das nächste Problem", heißt es. Denn dort könnten die gleichen "Nazi-Prozesse" entstehen wie in der Ukraine, meinen die Talkshow-Gäste.
Laut Junisbai zeigt das 20-sekündige Video, wie einfach Putins Propagandisten ihr Narrativ wechseln. Er sagt:
"Bei Kasachstan können sie nicht von einer Bedrohung der Nato sprechen. Das wäre lächerlich. Sie können auch nicht von Nazis im Land reden, wie in der Ukraine. Also, nennen sie es 'Nazi-Prozesse' – aber das kann alles bedeuten."
Der Kreml spricht von "Nazi-Prozessen", wenn jemand nicht nach seiner Pfeife tanzt, meint der Soziologe. Und die Ablehnung Kasachstans gegen den russischen Angriffskrieg geht dem Land wohl gewaltig gegen den Strich.
Kurz nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert ist, gingen die Menschen in Almaty auf die Straßen. "Kasachstan ist kein demokratischer Staat, der Proteste einfach so erlaubt", betont Junisbai. Und plötzlich duldete die Regierung anti-russische Proteste.
Kasachstan machte seinen Standpunkt deutlich: Wir sind nicht auf eurer Seite.
Sozialwissenschaftler Azamat Junisbai vom Pitzer College in Kalifornien.Bild: IMAGO/SNA / Mikhail Klimentyev
Junisbai hat Kasachstan im Oktober besucht. Die Leute aus verschiedenen sozialen Schichten hätten ihm erzählt: "Die Ukrainer kämpfen auch für uns Kasachen." Diejenigen, mit denen er gesprochen habe, seien erleichtert, dass Russland sich "an der Ukraine die Zähne ausbeißen". Ein geschwächtes Russland sei in Kasachstan willkommen, meint Junisbai.
Viele denken darüber nach, wie die Welt reagiert hätte, wäre Russland in Kasachstan einmarschiert. "Die Menschen befürchten, sie hätten nicht die gleiche internationale Unterstützung wie die Ukraine erhalten und das macht vielen Angst", meint der Experte.
Für ihn steht fest: Russlands imperialer Traum ist ein Alptraum für seine Nachbarn. Wenn Russland die Ukraine erfolgreich eingenommen hätte, wäre es nicht dabei geblieben. "Putin äußert sich oft genug darüber, dass er wieder das aufbauen will, was durch den Zerfall der Sowjetunion zerbrochen ist", meint Junisbai.
Das zeigt sich auch in der Propaganda-Talkshow von Solowjow.
Das Territorium Kasachstans wurde laut Russland "großzügig verschenkt"
Laut Junisbai spiegle die russische Propaganda die Seele des Landes wider. Er sagt:
"Für die Russen ist es wie ein Verrat, dass Kasachstan sich undankbar von ihnen abwendet und nicht wie Belarus unterstützt. Sie denken, dass die Kasachen ein großes Territorium besitzen, das sie nicht verdient haben. Es wurde ihnen 'großzügig verschenkt'."
Dieses Konzept zirkuliere in den russischen Köpfen seit vielen Jahren. Dabei weist Junisbai auf ein Essay des Literatur-Nobelpreisträgers Alexander Solschenizyn hin. Kurz vor dem Zerfall der UdSSR trug der Schriftsteller 1990 seine Gedanken zusammen unter dem Titel "Wie man Russland wieder aufbaut". Dabei schrieb er über Kasachstan:
"Das riesige Territorium, das es heute hat, wurde von den Kommunisten gedankenlos aufgeteilt: Wo die Nomadenherden einmal im Jahr vorbeizogen, wurde Kasachstan (...). Und heute machen Kasachen in diesem 'aufgeblähten' Kasachstan deutlich weniger als die Hälfte der Bevölkerung aus."
Laut Solschenizyn wurde das Land aus Südsibirien, dem Südural und den dünn besiedelten zentralen Ländern zusammengebaut. Seitdem hätten es Russ:innen, Gefängnisarbeiter:innen und die dort verbannten ethnischen Gruppen umgestaltet und aufgebaut.
Wenn das Land unabhängig werden sollte, dann könne es den Süden haben, so Solschenizyn damals. Schließlich lebten nur dort ethnische Kasach:innen. "Also komplettes, verrücktes, rassistisches Gerede eines russischen Nationalisten und Fan des russischen Imperiums", meint Junisbai.
Der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn bekam 1970 den Nobelpreis für Literatur verliehen. Bild: imago images/UIG / CPA Media Co. Ltd.
Solzhenitsyn spricht dabei von einer "Russischen Union", der die Ukraine, Belarus und Teile Kasachstan angehören sollten. Diese Art von Rhetorik hört man Junisbai zufolge heute auch bei Putin. Doch Aussagen wie "Es ist Putins Krieg", "Sobald Putin weg ist, wird alles besser", sind Junisbai zufolge nichts als Wunschdenken. Die Sehnsucht nach der verloren gegangenen "Größe Russlands" sei tief in der russischen Seele verwurzelt.
Es überrascht ihn immer wieder, dass viele Menschen Russland nicht als das sehen, was es sei: eine Kolonialmacht. Dieser Fakt sei auch für viele liberale Russ:innen schwer zu verdauen.
Das gelte auch für viele Russ:innen, die in Kasachstan leben.
Russen in Kasachstan sind Kreml-Propaganda ausgesetzt
Nach dem Zerfall der UdSSR verließen viele Russ:innen das Land. Er erinnert sich an eine russische Klassenkameradin, die ihm sagte: "Wir verlieren unsere Rechte und sind hier nicht mehr sicher." Und er sagt: "Für viele war der Zusammenbruch der Sowjetunion ein schlimmer Wandel." Jene Russ:innen, die geblieben sind, seien der gleichen Propaganda wie in Russland ausgesetzt.
"All die russischen Kanäle verbreiten auch in Kasachstan ihr Gift", sagt Junisbai. Das führe dazu, dass auch Russ:innen im Land Putin und den Krieg in der Ukraine unterstützen. Ihm zufolge sehen sie in der Unabhängigkeit Kasachstans einen "dummen Fehler" – wie auch in der Ukraine. Das seien "verschenkte Gebiete".
Jeden Abend läuft die Talkshow mit Putins Hetzer Wladimir Solowjow auf dem russischen Staatssender.Bild: IMAGO/Russian Look / Komsomolskaya Pravda
Aber auch Kasach:innen konsumieren Putins Propaganda. Die ältere Generation hat während der Sowjetzeit die kasachische Sprache verlernt. Junisbai zählt sich und seine Familie dazu. Auch sie seien für russische Propaganda anfällig. "Wie mein Onkel, der nichts anderes als diesen Mist konsumiert."
Doch der demografische Wandel in Kasachstan mache Putins Hetze einen Strich durch die Rechnung. Vor allem durch die kasachischen Millennials und GenZ.
Sprache als Schutz gegen Putins Lügen
Bei den ethnischen Kasach:innen zeigt sich laut Junisbai eine interessante neue Dynamik: Mehr und mehr sind nach dem Zerfall der Sowjetunion in die Städte gezogen und beeinflussen diese. Die Geburtenrate liegt bei ihnen viel höher als bei der russischen Gemeinschaft im Land. Diese jungen Generationen sprechen wieder die kasachische Sprache. "Dies verleiht ihnen eine Immunität gegen russische Propaganda", sagt der Experte.
Mittlerweile gibt es mehrere kasachische Sprachclubs, die der Russe Alexey Skalozubov ins Leben gerufen hat. "Viele nehmen daran teil. Russen, die vor der Mobilmachung geflohen sind oder eben auch Kasachen wie meine Familie, die diese Sprache verlernt haben", erklärt Junisbai.
Wenn er selbst das Land besucht, fragen ihn oft die Taxifahrer, warum er kein Kasachisch spreche. Nie zuvor habe er sich unwohl dabei gefühlt, Russisch zu sprechen. Schließlich galt dies früher als Zeichen von Bildung und hohem Status. Mit dem Krieg in der Ukraine hinterfrage er all das nun und lernt selbst Kasachisch.
"Für die Russen ist dieses Wiederbeleben der kasachischen Sprache wohl ein 'Nazi-Prozess'", sagt er.