Die weltweite Nahrungsmittelkrise droht zu eskalieren: Der Preis für Weizen ist seit Anfang des Jahres um fast 60 Prozent gestiegen. Mehr als 250 Millionen Menschen stehen am Rande einer Hungersnot. Grund dafür sind faktische Ernteausfälle in Afrika. Und der Krieg in der Ukraine.
Im Hafen von Odessa herrscht seit Monaten Stillstand. Mehr als 20 Millionen Tonnen Getreide stecken in Silos fest. Verschiffen geht momentan nicht, russische Frachter haben die Zufahrtsrouten blockiert und lassen kein ukrainisches Schiff mehr passieren. Auch sind die Gewässer vor den Häfen vermint. Wird man die Silos nicht bald leeren, droht zudem die nächste Ernte zu verfaulen, da sie nicht richtig gelagert werden kann.
Doch das ist nicht das einzige Problem. Die Ukraine wirft Russland vor, ihr Getreide zu stehlen. Rund 500.000 Tonnen Weizen sollen die Russen entwendet haben. Marktwert: 100 Millionen US-Dollar.
Der US-Außenminister Anthony Blinken sagte auf einer Pressekonferenz, dass Russland das geklaute Getreide nun verkaufen wolle. Dabei stützte er sich auf "glaubwürdige Berichte". Die "New York Times" berichtete diese Woche, dass die USA Mitte Mai 14 hauptsächlich afrikanischen Ländern eine Warnung versandte, dass russische Frachtschiffe Häfen in der Nähe der Ukraine verließen, die mit "gestohlenem ukrainischem Getreide" beladen waren.
Das stellt den Westen vor ein Dilemma: Auf der einen Seite warnt man die von Hunger geplagten Nationen Afrikas vor einem Kauf des gestohlenen Getreides. Auf der anderen Seite ist es wohl höchst unmoralisch, den hungernden Staaten zu verbieten, Essen für ihr Volk zu kaufen.
Doch von Anfang an. Die Ukraine wirft Russland bereits seit Monaten vor, Getreide aus besetzten Gebieten zu stehlen. Erste Berichte dazu gab es Mitte März. Ein Großteil des Getreides sei aus Silos in den Regionen Saporischschja, Cherson, Donezk und Luhansk entwendet worden.
Gemäß ukrainischen Angaben wird das Getreide zu den Häfen der Krim gebracht, nach Sewastopol zum Beispiel. Auf Social Media tauchen immer wieder Videos auf, die vollbeladene russische Lastwagen zeigen. Die "New York Times" konnte eines dieser Videos prüfen und seine Echtheit bestätigen. Auf den Bildern ist ein Lastwagen-Konvoi zu sehen, der von Melitopol in Richtung Südwesten zur Krim unterwegs war.
Russland bestreitet alle Vorwürfe. Doch die Beweislage ist erdrückend. Ukrainische Open-Source-Investigationen konnten mindestens 10 Frachtschiffe ausfindig machen, die gestohlenes Getreide exportierten.
Die Schiffe versuchen zwar ihre Spuren zu verwischen, in dem sie ihre Transponder ausschalten. Doch vor den Satelliten können sie sich nicht verstecken. Vor allem nicht vor jenen der US-Firma Maxar Technologies, die auch für Google Maps Fotografien liefert. Ihre Satelliten schaffen es, gestochen scharfe Bilder aus über 600 Kilometer Höhe zu schiessen. So konnten sie die Weltgemeinschaft bereits über den 60 Kilometer langen Konvoi vor Kiew warnen.
Auch im Kampf gegen russische Getreide-Diebstähle erweisen sich die Bilder von Maxar als sehr nützlich. Ende Mai zeigten Aufnahmen ein Frachtschiff am Hafen von Sewastopol, welches Getreide lud.
Laut Berichten waren letzten Monat drei russische Schiffe mit mutmaßlich gestohlenem Getreide zwischen der Straße von Kertsch und verschiedenen Häfen im östlichen Mittelmeer unterwegs. Ein Schiff – die Matros Pozynich – wurde später im Hafen von Latakia in Syrien gesichtet. Die Nachrichtenagentur AP wertete die Bilder aus und bestätigte die Anwesenheit des russischen Schiffes.
Auch in der Türkei sollen russische Schiffe andocken. Oder zumindest türkisches Gewässer durchqueren. Anfang Juni rief der ukrainische Botschafter in der Türkei die Behörden auf, die Herkunft des von Russland transportierten Getreides zu untersuchen.
Der Raubzug weckt bei vielen Ukrainern böse Erinnerungen an den Holodomor. In den Jahren 1932/1933 enteignete die Sowjetunion unter der Herrschaft von Josef Stalin die ukrainischen Bauern. Vier Millionen Menschen starben daraufhin den Hungertod.
Den massenhaften Hungertod der eigenen Bevölkerung befürchten nun auch afrikanische Staaten wie Somalia. Über 45 Prozent der Einwohner Somalias hätten laut der UN Probleme, genügend Essen für ihre Familien zu besorgen.
Hassan Khannenje, Direktor des Horn International Institute for Strategic Studies in Kenia sagte deswegen gegenüber der "New York Times", dass viele afrikanische Länder nicht zögern würden, von Russland geliefertes Getreide zu kaufen, "ganz egal, woher es kommt".
Dies dürfte sich umso mehr bewahrheiten, als dass Russland im Verdacht steht, das geklaute Getreide unter dem Marktwert zu verkaufen. Die afrikanischen Staaten werden so zum Spielball der grossen Mächte. Und der Westen macht den Anschein, zu verlieren. "Den Afrikanern ist es egal, woher ihr Essen kommt. Der Bedarf an Nahrungsmitteln ist so dringlich, dass man darüber gar nicht diskutieren muss", sagt Khannenje.
Das zeigte sich kürzlich auch in Sotschi, als Macky Sall, seines Zeichens Präsident des Senegals und Vorsitzender der afrikanischen Union, den russischen Präsidenten Wladimir Putin besuchte. Oder wie Sall ihn nannte: "Meinen guten Freund Wladimir". Das Ziel seines Besuches war klar: Getreidelieferungen aus Russland.
Die Ukraine und die USA auf der anderen Seite wollen verhindern, dass geklautes Getreide auf den Tellern Afrikas landen. Die Lösung für Afrikas Nahrungsmittelproblem sei nicht der Kauf von geplündertem Getreide, sondern ein größerer internationaler Druck zur Beendigung des Krieges, sagte Taras Vysotsky, Vize-Agrarminister der Ukraine. "Es gibt eine einfache Antwort: Stoppt die Kämpfe."
Hassan Khannenje sieht das anders: "Wenn der Westen Alternativen anbieten kann, werden die Länder darauf hören", sagte er. "Aber hysterisch zu sein, wird sie nur noch weiter in die Arme Russlands treiben."