"Heute Nacht hat sich der Europäische Rat auf ein sechstes Sanktionspaket geeinigt." Mit diesen Worten verkündete EU-Ratspräsident Charles Michel in der Nacht zum Dienstag das Ergebnis der Verhandlungen des Sondergipfeltreffens auf Twitter.
In dem neuen Sanktionspaket gegen Russland enthalten: ein EU-weiter Kaufstopp für russisches Öl bis spätestens Ende des Jahres. Allerdings soll es kein komplettes Energie-Embargo geben, wie es ursprünglich geplant war. Denn das Embargo betrifft nur jenes Öl, das mit Schiffen transportiert wird – damit also etwa zwei Drittel aller russischen Öl-Importe in die EU. Nicht betroffen: Die "Druschba"-Pipeline (auf Deutsch "Freundschaft"), die Länder wie Deutschland, Polen, die Slowakei und Ungarn mit russischem Öl versorgt.
Diese Einigung ist ein Sieg für Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. Denn sein Land ist auf russisches Öl angewiesen. In den vergangenen Wochen hatte er sich deshalb auch gemeinsam mit Tschechien und der Slowakei gegen ein komplettes Energie-Embargo ausgesprochen. Das Öl durch die "Druschba"-Pipeline soll weiterfließen. Auf unbestimmte Zeit. Orbán kann jetzt selbst entscheiden, wann er aussteigen will.
Für den ungarischen Ministerpräsidenten ist der nun ausgehandelte Deal entscheidend. Sein Land bezieht mehr als 60 Prozent seines Öles aus Russland. Bei Erdgas sind es sogar 85 Prozent. Neue Sanktionen gegen Russland werde Orbán daher nur gegen eine gesicherte russische Öllieferung in sein Land mittragen, wie er in Brüssel klarstellte.
Viktor Orbán ist seit 2010 ununterbrochen Ministerpräsident in Ungarn. Und wurde mit seiner Partei Fidesz (Fiatal Demokraták Szövetségen, auf Deutsch: Bund Junger Demokraten) erst im April wiedergewählt. Mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Seine konservative Partei besetzt alle wichtigen Posten im Land. Menschenrechtsorganisationen warnen deshalb: Die Rechtsstaatlichkeit und die Pressefreiheit sind in Gefahr. Die Korruption steigt.
Vor wenigen Tagen hat Viktor Orbán erneut den Notstand für sein Land ausgerufen. Nicht im Parlament, sondern über die Social-Media-Plattform Facebook. Diesmal wegen des russischen Krieges in der Ukraine. Zuvor wegen der Corona-Pandemie. Dann wegen der großen und neuen Flüchtlingsbewegung über die Balkanroute durch Ungarn.
Seitdem regiert er per Dekret.
Also quasi allein. Dabei bräuchte er diese Sonderrechte durch die Notverordnung gar nicht. Bei einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament könnte Orbán auch ohne das Dekret jeden Gesetzesvorschlag durchsetzen.
Welche Strategie verfolgt der ungarische Ministerpräsident also? Einfach Politik aus Prinzip?
"Nein", sagt Tanja Anita Börzel im Gespräch mit watson. Sie ist Professorin für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Sprecherin des Exzellenzclusters "Contestations of the Liberal Script". Nur wegen der Symbolik würde Orbán keinen Notstand ausrufen. Möglicherweise könnte er dadurch die Freiheitsrechte der Menschen in Ungarn, wie beispielsweise die Versammlungsfreiheit, einschränken.
Man müsse sich fragen, worum es Orbán eigentlich gehe, sagt Börzel:
Die Staatskassen sind leer – geleert durch Wahlkampfgeschenke. Und nicht wieder aufgefüllt, weil die EU-Kommission Gelder zurückhält. Die Corona-Hilfen, die den Mitgliedsstaaten zum wirtschaftlichen Wiederaufbau zur Verfügung gestellt werden sollen. Die Begründung der EU: das gerade laufende Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn.
Dass Ungarn nun einem Teil-Energie-Embargo zugestimmt hat, will sich Orbán bezahlen lassen. Er fordert deutlich mehr Geld von der EU, als die zurückgehaltenen Corona-Hilfen. Ob die EU einlenken wird, wird sich in den nächsten Tagen zeigen.
"Orbán hat seine Macht in der EU mit dem Veto beim Energie-Embargo schon überreizt", sagt Raphael Bossong im Gespräch mit watson. Der Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) erwarte daher keine weiteren Zugeständnisse seitens der EU für Ungarn.
Um an die Corona-Hilfen der EU zu kommen, müsste Orbán seinen Regierungsstil grundlegend reformieren. Aber auch das gilt als unrealistisch. Denn anders als in Polen, denen bisher ebenfalls aufgrund der Problematik der Rechtsstaatlichkeit die Corona-Hilfen verwehrt blieben, bemüht sich Orbán nicht gerade um das Vertrauen der EU.
Aber: "Die Grundlage für das Zurückhalten der Corona-Wiederaufbauhilfen der EU ist wackelig", sagt Bossong. Deshalb sei aktuell davon auszugehen, dass Polen das Geld bald zugesagt bekomme.
Mit Polen war Ungarn immer auf einer Linie. Zumindest was die Haltung in der EU angeht. Man konnte schon fast von einem Kartell sprechen, unter den beiden rechtsnationalen Regierungen. Sie schützten sich gegenseitig per Veto vor EU-Sanktionsbeschlüssen.
Doch was die Haltung zu Russland angeht, stehen die beiden Länder auf gänzlich unterschiedlichen Seiten: Polen gibt sich als Anwalt der EU, der die härtesten Sanktionen gegen Russland durchsetzen will. Ungarn hingegen hatte wochenlang das neue Sanktionspaket blockiert. Wegen des russischen Öles.
Ob dieses Band nun reißt, sei nicht einzuschätzen, sagt Thomas Malang. Er ist Politikwissenschaftler an der Universität Konstanz. Fakt sei: Polen ist seit der russischen Invasion wieder sehr viel näher an die Position der EU gerückt, während Ungarn weiter der Außenseiter ist.
Weitestgehend steht Ungarn also allein da mit seiner Haltung zu Russland. Das habe Orbán viel Kritik aus Polen eingehandelt, sagt Raphael Bossong. Ungarn habe deshalb viel Rückhalt in der EU in der letzten Zeit verloren. Aber ganz allein ist das Land dennoch nicht. Beispielsweise ist Österreichs Kanzler Karl Nehammer an Orbáns Seite gesprungen und hat seine Haltung legitimiert.
Bossong und Politikwissenschaftlerin Börzel sind sich einig: Die komplette Rückendeckung aus Polen wird Ungarn nicht verlieren.
Börzel sieht für Orbán viel eher das Problem darin, dass er sich offen gegen die Ukraine gestellt habe. Nicht seine milde Haltung gegenüber Russland.
Unmittelbar nach seiner Wiederwahl sagte Orbán, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sei im Wahlkampf einer seiner größten "Gegner" gewesen.
Aber nur, weil sich ein Land gegen die Ukraine stelle, sei es nicht automatisch auf der Seite Russlands, sagt Börzel. Das Verhältnis zwischen Ungarn und Russland sei dennoch problematisch.
Da wären das wochenlang blockierte Energie-Embargo, das Verbot von Waffenlieferungen an die Ukraine über ungarisches Territorium und der Bau eines Atomkraftwerks in Paks – mit dem russischen Konzern RosAtom als Bauträger und Finanzierer.
Doch Ungarn ist international und EU-weit schließlich nicht allein mit seiner kritischen Haltung gegenüber Russland. Auch die Slowakei und Tschechien waren an der Embargo-Blockade maßgeblich beteiligt.
Börzel sagt:
Zwar wurde am zweiten Tag des EU-Sondergipfels über Möglichkeiten diskutiert, sich in Sachen Energie weiter von Russland unabhängig zu machen. Ein gänzliches Gas-Embargo der EU stößt aber bisher auf wenig Gegenliebe innerhalb der Mitgliedsstaaten.