Die militant-islamistischen Taliban beherrschen wieder Afghanistan – rund zwei Jahrzehnte, nachdem eine US-geführte Militärkoalition sie aus der Hauptstadt vertrieben hatte. Sie hatten das Land bereits von 1996 bis 2001 regiert. Als Reaktion auf die Anschläge am 11. September, bei denen Terroristen mit Flugzeugen das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington angriffen, begann der Einsatz der Nato im Herbst 2001 in Afghanistan. In dem Land versteckte sich damals Osama Bin-Laden, der Chef der Terror-Organisation Al-Qaida und Drahtzieher der Anschläge.
Das Ziel des Nato-Einsatzes damals: Terrorismus bekämpfen und die Taliban aus der Regierung jagen. Letzteres gelang innerhalb weniger Wochen. Dennoch behielten die Taliban in den vergangenen beiden Jahrzehnten weiterhin Gebiete unter ihrer Kontrolle – vor allem im ländlichen Raum.
Zwischen 1996 und 2001, als die radikal-islamische Miliz zuletzt in ganz Afghanistan die Regierung stellte, beging sie laut den Vereinten Nationen diverse Massaker an der Zivilbevölkerung. Frauen hatten damals kaum Rechte – auf der Straße mussten sie sich vollständig verschleiern, Schulbildung gab es für sie nicht, stattdessen die Zwangsehe. Sich selbst bezeichnen die Taliban als Gotteskrieger.
Ihr Ziel: In Afghanistan eine islamische Herrschaft nach ihrer frauenfeindlichen und radikalen Deutung der Scharia, des islamischen Rechts, aufbauen. Die Scharia nach dem Verständnis der Taliban beinhaltet laut der Bundeszentrale für politische Bildung auch körperliche Strafen. Auch heute begehen die Taliban nach UN-Informationen schwere Menschenrechtsverletzungen. Das berichtete unter anderem die "Deutsche Welle" und beruft sich auf den UN-Generalsekretär António Guterres.
Obwohl die Taliban stets zahlenmäßig unterlegen waren und gegen einen überlegenen Gegner heftige Verluste erlitten, gibt es immer noch Menschen, die ihnen beitreten. Bis zu 70.000 Kämpfer standen 2020 nach dpa-Informationen schätzungsweise im Dienst der militanten Gruppe. Was Menschen an der radikalen Organisation reizen könnte, dieser Frage ist watson nachgegangen.
Den Taliban schließen sich, anders als beispielsweise dem Islamischen Staat (IS) nur Afghanen an, erklärt Mouhanad Khorchide im Gespräch mit watson. Khorchide ist Islamwissenschaftler und Soziologe an der Universität Münster. Als Gründe dafür, warum die radikale Gruppierung Sympathisanten findet, nennt er: Enttäuschung und Opportunismus. Konkret nennt Khorchide:
Es gebe aber auch Menschen in Afghanistan, die sich nicht aus Überzeugung auf die Seite der Taliban schlagen. Khorchide meint:
Opportunismus ist auch einer der Gründe, die Ebrahim Afsah für den Zulauf zu den Taliban ausschlaggebend hält. Er ist Professor an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte: Islamisches Recht und Völkerrecht. "Außerdem entspricht die Weltsicht der Taliban zu sehr weiten Teilen der von ganz normalen Afghanen", ergänzt Afsah.
Das liegt aus seiner Sicht daran, dass ein großer Teil der Afghanen die liberal-demokratischen Werte – denen sich die Taliban entgegensetzen – nicht teilt. Afsah erklärt:
Michael Blume, Beauftragter des Landes Baden-Württemberg gegen Antisemitismus, Religionswissenschaftler und Autor des Buches "Der Islam in der Krise", sieht die Gründe des Erfolgs darin, wie sie ausgebildet werden. Er sagt: "Die Taliban werden an Koranschulen ausgebildet, an denen sie jedoch außer Kämpfen und Hassen wenig lernen. Dadurch bleiben sie von den Anführern abhängig."
Blume erklärt die Zustimmung zu den Taliban so: Die Kritik der Taliban an Korruption und Willkür durch Warlords und eine schwache Regierung in Afghanistan trifft auch auf Zustimmung unter Nicht-Taliban. Durch die Unterdrückung und sexuelle Ausbeutung von Frauen hätten die Taliban außerdem viele Kinder – und damit "viele verzweifelte Rekruten", meint Blume.
"Die Faszination ist nicht vernünftig vermittelbar", sagt Ahmad Milad Karimi. Er ist Islamwissenschaftler, Religionsphilosoph und Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zum Erfolg der Taliban.
Die jungen Menschen, die die Bewegung für sich gewinnen konnte, stammten aus unsäglichen Verhältnissen und seien ohne Bildung aufgewachsen. Er spricht von einer Art Verführung durch die Taliban, da sie jungen Menschen eine vermeintliche Perspektive böten.
Karimi sagt über die Islamisten:
Wo die Taliban heute steht, und ob sie wie bei ihrer letzten Regentschaft die Frauenrechte massiv beschneidet, das wird sich in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. In aktuellen Pressestatements gibt sich die Organisation moderner. Trotzdem, so Khorchide, zitterten Frauen aktuell zu Recht um ihre Rechte.
Aus Sicht von Afsah ist es nicht abwegig, dass Afghanen die Taliban unterstützen: "Die Taliban sind durchaus repräsentativ für den Islam und ihre Positionen decken sich in weiten Teilen mit denen durchaus etablierter Staaten, allen voran Saudi Arabien", fügt er an.
Gegenüber watson erklärt Afsah: "Allerdings sind die Taliban sehr krude und vermischen gerne ihr Stammesrecht mit dem islamischen. Ersteres ist sehr viel rückständiger als letzteres."
Dass die Taliban repräsentativ für den Islam sein sollen, diese These vertritt Blume nicht.
Gegenüber watson erklärt er:
Karimi geht noch einen Schritt weiter: für ihn sind die Taliban in erster Linie keine radikalen Muslime, sondern militante Ideologen: "Die Taliban sind keine Muslime, die ihre Religion ideologisiert haben, aus dem Islam ein Monstrum erschaffen haben. Vielmehr sind sie im Kern militante Ideologen, Fundamentalisten, Frauenhasser, die ihre Ideologie religiös deuten, ihre Monstrosität fromm verkaufen."
Ob sich durch die Machtübernahme durch die radikale Gruppierung die Sicht auf den Islam verschlechtern wird? "Ich denke nicht, dass die westliche Sicht des Islams noch viel schlechter werden kann, aber ich bin mir sicher, dass sich hier viele finden werden, die entschuldigende Worte finden", sagt der Afsah.
Karimi blickt optimistischer auf die Lage. Aus seiner Sicht gibt es ein sehr heterogenes Bild des Islams in Europa. Er befürchtet allerdings, dass die Taliban und ihr Islam-Verständnis Rechtspopulisten in die Hände spielen könnten. Gleichzeitig hofft er:
Khorchide ist davon überzeugt, dass sich in westlichen Ländern der Blick auf den Islam in den vergangenen Jahren differenziert hat. "Ich gehe davon aus, dass die Taliban nicht als für Muslime repräsentative Auslegung des Islams wahrgenommen wird", sagt er. Was jetzt aber seiner Meinung nach wichtig ist: Dass die westliche Welt ihre Strategie mit dem Kampf gegen Extremismus und Islamismus überdenkt.
Er sagt:
Statt in Afghanistan Soldaten auszubilden, hätten Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet werden müssen, so Khorchide. "Aufklärung beginnt mit Bildung und nicht mit der Waffe", fasst er zusammen.