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Analyse

Wie die Gräueltaten von Butscha den Krieg in der Ukraine verändern

April 3, 2022, Kyiv, Ukraine: Ukrainian soldiers inspect the wreckage of a destroyed Russian armored column on a road in Bucha, a suburb just north of the Capital, Kyiv. As Russian troops withdraw fro ...
Ukrainische Soldaten inspizieren das Ausmaß der russischen Zerstörung im Kyiwer Vorort Butscha.Bild: SOPA Images via ZUMA Press Wire / Matthew Hatcher
Analyse

Wie die Gräueltaten von Butscha den Krieg in der Ukraine verändern

04.04.2022, 19:5308.06.2022, 17:22
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Leichen auf den Straßen, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, Tote in zerstörten Autos, Massengräber: Die Bilder von auf grausamste Weise getöteten Zivilistinnen und Zivilisten in der Kleinstadt Butscha schockieren Menschen auf der ganzen Welt.

Butscha liegt 28 Kilometer nordwestlich von der ukrainischen Hauptstadt Kyiw entfernt. Die Kleinstadt mit über 36.000 Einwohnerinnen und Einwohnern war etwa einen Monat lang von russischen Truppen kontrolliert. Am Wochenende gab die ukrainische Regierung bekannt, mehr als 30 Dörfer im Gebiet um Kyiw zurückerobert zu haben. Nach dem Abzug der russischen Truppen fanden ukrainische Soldaten in Butscha fast 300 Leichen. Diese Zahl kann noch nicht abschließend bestätigt werden. Sie könnte viel höher sein.

Anatoly Fedoruk, der Bürgermeister von Butscha, sagte in einem ersten Statement am vergangenen Wochenende: "Alle diese Menschen wurden erschossen. Sie haben sie mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet."

Strack-Zimmermann nennt Leichenfund in Butscha "Völkermord"

Politikerinnen und Politiker aus der ganzen Welt verurteilten die Gräueltaten.

Bundeskanzler Olaf Scholz forderte umgehende Aufklärung des Massakers an Zivilisten. "Ich verlange, dass internationale Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz Zugang erhalten zu diesen Gebieten, um die Gräueltaten unabhängig zu dokumentieren", sagte der SPD-Politiker am Sonntag in Berlin.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck kündigen härtere Sanktionen gegen Russland an. Welche Sanktionen das sein werden, ist bisher unklar.

Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), spricht auf Twitter von einem russischen "Kriegsverbrechen in Butscha", das "schockierend, widerwärtig und grausam" sei.

Beim Nachrichtensender Welt bezeichnet Strack-Zimmermann die Taten in Butscha am Sonntag als "Völkermord", der nicht zu relativieren sei. Sie kündigt zudem an, dass Deutschland und ganz Europa sowie die USA die Ukraine mit weiteren Waffen ausrüsten werde, damit sich die Ukraine zur Wehr setzen könne.

Auch Grünen-Politiker und Vorsitzender des Europaausschusses, Anton Hofreiter, fordert eine schnelle Waffenlieferung an die Ukraine. Zuvor haben sich die Grünen klar gegen eine solche Unterstützung der Ukraine ausgesprochen.

Waffenlieferungen an die Ukraine werden geprüft

In einem Treffen mit einer Delegation von Wladimir Klitschko hat Strack-Zimmermann erfahren, welche Unterstützung die Ukraine dabei konkret benötigt. Wladimir Klitschko war vergangenen Donnerstag und Freitag zu Besuch in Berlin und hatte dort unter anderem mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sowie Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gesprochen.

"Wir haben es mit Verbrechern zu tun, die die Ukraine auslöschen wollen."
Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP)

Nach dem Treffen mit der Delegation Klitschkos hat die Ukraine der Bundesregierung eine Liste übersandt. Darauf die Dinge, die noch benötigt werden. Gegenüber watson sagt Strack-Zimmermann: "Gemeinsam mit Politik, Militär und Industrie prüfen wir, was wir noch zusätzlich aus Beständen liefern können und was wir mit der Industrie zusammen direkt an die Ukraine senden können." Dabei dürfe keine Zeit mehr verloren werden, betont Strack-Zimmermann.

75. Ordentlicher Landesparteitag der FDP-NRW am 02.04 2022 in der Mercrtorhalle in Duisburg Marie-Agnes Strack-Zimmermann Foto: Revierfoto
Marie-Agnes Strack-Zimmermann bei einem FDP-Parteitag am 2. April 2022 in Nordrhein-Westfalen.Bild: Revierfoto / Revierfoto

Diese Liste mit Forderungen liegt watson ebenfalls vor. Die Ukraine fordert demnach unter anderem Panzer, Haubitzen sowie Anti-Schiffs-Raketen. Marie-Agnes Strack-Zimmermann erklärt gegenüber watson, wie diese Forderungen realisiert werden könnten:

"Deutschland kann entweder 'fertige' Bestellungen für Deutschland an die Ukraine 'umwidmen' und bezahlen oder für die Ukraine bestellen und bezahlen. Gerade Letzteres wird natürlich nicht von heute auf morgen gehen."

Strack-Zimmermann sagt weiter: "Angesichts der aktuellen Gräueltaten reichen die aktuellen Maßnahmen nicht aus. Wir haben es mit Verbrechern zu tun, die die Ukraine auslöschen wollen. Entsprechend kompromisslos müssen unsere Antworten sein – auch und gerade bei den Sanktionen."

Damit meint die FDP-Politikerin weitere Verschärfungen beim völkerrechtlichen Abkommen SWIFT zwischen der EU und den USA oder ein mögliches Öl- und Gasembargo. "Das sind die Maßnahmen, die Russland am härtesten treffen."

Eine weitere Reaktion der Bundesregierung auf den Leichenfund in Butscha ist die Ausweisung russischer Diplomaten. Innerhalb von fünf Tagen müssten 40 Botschaftsangehörige das Land verlassen, wie Außenministerin Annalena Baerbock am Montag erklärte. Sie gelten fortan als unerwünschte Personen.

Zuvor hatte Strack-Zimmermann bereits auf Twitter eine Ausweisung dieser gefordert, nachdem die russische Botschaft sie gemeinsam mit weiteren deutschen Politikerinnen und Politikern in einem Tweet markiert hatte, in dem das mutmaßliche Verbrechen in Butscha dementiert wurde.

Wann man von einem Kriegsverbrechen sprechen kann

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat in den vergangenen Wochen mehrere Fälle dokumentiert, in denen russische Soldaten Zivilistinnen und Zivilisten in den besetzten Gebieten der ukrainischen Regionen Tschernihiw, Charkiw und Kyiw verletzten. Der Leichenfund in Butscha kommt nun dazu.

Das Kriegsrecht schreibt vor, wie sich die Staaten, die Krieg führen, zu verhalten haben. Verboten ist demnach unter anderem, Zivilistinnen und Zivilisten grausam zu behandeln oder sich ergebende Soldaten zu töten. Wird das Kriegsrecht dahingehend verletzt, liegt ein Kriegsverbrechen vor. Der Staat, der es begangen hat, kann vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt werden.

Von Völkermord wird dann gesprochen, wenn ein ganzes Volk oder eine Volksgruppe durch die Kriegssieger ausgelöscht werden. Dieses Vergehen zählt zu den schlimmsten Kriegsverbrechen.

Das Ausmaß der russischen Zerstörung wird in Butscha sichtbar

Täglich werden in der Ukraine zahlreiche Menschen getötet. Dennoch ist der internationale Aufschrei nach dem Leichenfund in Butscha größer als zuvor. "Vermutlich, weil es zum ersten Mal so starke Bilder gibt", sagt Wolfgang Buettner, Sprecher von Human Rights Watch Deutschland, im Gespräch mit watson. "Diese Grausamkeiten" würden im Fall von Butscha besonders stark erscheinen, erklärt er.

"Der gesamte Krieg in der Ukraine ist von Anfang an von Kriegsverbrechen geprägt."
Wolfang Buettner, Sprecher von Human Rights Watch Deutschland

Die Menschenrechtsorganisation hat in den vergangenen Wochen immer wieder mutmaßliche russische Kriegsverbrechen dokumentiert. Solange der Leichenfund in Butscha jedoch nicht als solches bestätigt wurde, könne man nichts Näheres sagen, teilt der Sprecher mit. "Der gesamte Krieg in der Ukraine ist von Anfang an von Kriegsverbrechen geprägt."

Es gibt Berichte über gefesselte Zivilistinnen und Zivilisten, die durch einen Kopfschuss getötet wurden, Bilder von Menschen, die offensichtlich mit dem Fahrrad fuhren, als sie erschossen wurden. Der Bürgermeister Butschas, Anatoly Fedoruk, spricht von Autos, in denen "ganze Familien getötet wurden: Kinder, Frauen, Großmütter, Männer".

Unter anderem der "Bild"-Journalist Paul Ronzheimer war vor Ort in Butscha und berichtete von zahlreichen Leichen in den Straßen, "purer Horror", nannte er es. Human Rights Watch wolle nun einen eigenen Mitarbeiter nach Butscha schicken, um die Berichte zu bestätigen und ein mögliches Kriegsverbrechen zu dokumentieren, sagt Buettner.

Selenskyj verändert seine Rhetorik

Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj teilt auf Instagram Bilder aus Butscha. Zu sehen: leere Straßen, mit Leichen übersät, Massengräber, aus denen gefesselte Hände und Köpfe von Leichen ragen und Menschen, die das Ausmaß der Situation vor Ort erfassen wollen.

Dass das Massaker an Zivilisten in Butscha eine andere Dimension als die mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen zuvor hat, wird auch an der Sprache Selenskyjs deutlich.

In seinen ersten Reden nach der Eskalation in der Ukraine fand Selenskyj noch diplomatische Worte für die russische Bevölkerung. Diese Rhetorik hat er nun verschärft. Angesichts der aktuellen Entwicklungen bleiben ihm nur noch Wörter wie "Bastarde, Mörder, Plünderer und Schlächter" für die russischen Soldaten.

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