Weltweit demonstrieren Menschen, wie hier in Brüssel, für den Frieden.Bild: NurPhoto / Romy Arroyo Fernandez
International
30.03.2022, 20:2608.06.2022, 17:25
Über einen Monat dauert der russische Angriffskrieg in der Ukraine nun schon. Viele Menschen sind getötet worden, Städte zerbombt und das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl ist in Flammen aufgegangen. Ein Krieg, der länger dauert, als sich der Aggressor und Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin gedacht hätte. Die Ukrainer wollen kämpfen. Und bisher schließt die ukrainische Führung eine Kapitulation aus.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stellte mehrfach klar: Städte wie Mariupol, Charkiw und Kyjiw werden nicht aufgegeben. Die ukrainische Bevölkerung soll außerdem per Referendum über Absprachen mit Moskau entscheiden. Im Austausch für einen möglichen neutralen Status fordert die Ukraine von Russland Sicherheitsgarantien. Gebiete wolle das Land weiterhin nicht abtreten. Nach neuen Friedensverhandlungen am Dienstag sagte der Fraktionsvorsitzende der Präsidentenpartei "Diener des Volkes": "Wir erkennen nur die Grenzen der Ukraine an, die von der Welt mit Stand 1991 anerkannt sind". Also die Ukraine inklusive Krim und der russisch besetzten Gebiete im Donbas.
In Deutschland hingegen haben schon manche gefordert, die Ukraine solle kapitulieren. Begründet wird dies damit, dass man so weiteres Blutvergießen vermeiden könne. Der Philosoph Richard David Precht ging so weit, der Regierung der Ukraine eine Mitschuld an den Kampfhandlungen und dem Tod zu geben. Dafür hagelte es Kritik. Und trotzdem trendet auf Twitter der Hashtag #Kapitulation immer wieder – und auch an Küchentischen und in WhatsApp-Chats wird darüber diskutiert.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.Bild: MAXPPP / Vincent Voegtlin
Doch was würde eine Kapitulation für die Ukraine bedeuten? Und: Welchen Preis darf Freiheit haben? Diesen moralisch wie ethisch schwierigen und streitbaren Fragen geht watson auf den Grund. Eine Suche nach Kompromissen und Einschätzungen in einem äußerst komplizieren Bereich. Denn wie kann Krieg gerecht sein?
Die Frage der Gerechtigkeit
Die Idee des "Gerechten Kriegs" gibt es seit der Antike. Der griechische Philosoph Platon hat einen Krieg dann als legitim definiert, wenn es sich um die Verteidigung des eigenen Staates handelt. Der Militärsoziologe Martin Elbe verweist im Gespräch mit watson auf die Denker Augustinus von Hippo und Immanuel Kant. Elbe ist der Vorsitzende des Arbeitskreises Militär und Sozialwissenschaften und hat gerade ein Buch zur Philosophie des Militärs veröffentlicht.
"In der Ethik geht es aber um Wahrheiten und in der Ukraine handelt es sich um einen Angriffskrieg. Damit ist er nicht gerechtfertigt."
Martin Elbe, Vorsitzender des Arbeitskreises
Militär und Sozialwissenschaften
Kant habe in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" festgehalten, dass Bürger immer das Recht auf Selbstverteidigung hätten. Krieg sei also im Zuge der Notwehr gerechtfertigt. Anders sehe das Augustinus, einer der frühen Kirchenväter, der im dritten Jahrhundert lebte. Ein Krieg müsse aus Augustins Sicht von einem legitimen Herrscher angeordnet und gerechtfertigt sein. Außerdem bräuchte er eine Zielsetzung.
In Bezug auf den russischen Angriff auf die Ukraine sagt Elbe:
"Putin ist legitim, er rechtfertigt den Krieg damit, dass angeblich russische Bürger von einem ukrainischen Nazi-Regime unterdrückt würden und die Zielsetzung ist auch nur begrenzt und sie ist geeignet, um den Zweck zu erfüllen. Drei Häkchen, aus Augustins Sicht wäre dieser Krieg also legitim. Aus Kants Sicht niemals!"
In der Ethik aber gebe es nur Wahrheiten, sagt Elbe. "Es wird kaum argumentiert, wie es dem Einzelnen erscheint. Crauzier und Friedberg haben ein Buch über den alltäglichen Einsatz von Macht geschrieben – und sind zu dem Schluss gekommen, dass der Einzelne immer glaubt, rational zu handeln", sagt Elbe. Insofern seien auch die Gründe, die Putin nennt, nachvollziehbar, ohne dass wir selbst daran glauben. "In der Ethik geht es aber um Wahrheiten und in der Ukraine handelt es sich um einen Angriffskrieg. Damit ist er nicht gerechtfertigt", sagt Elbe.
Angriffskriege seien nicht nur laut Kant, sondern auch laut Kriegsvölkerrecht verboten, stellt Elbe klar. Da außerdem in der UN-Vollversammlung fast alle Staaten diesen Krieg verurteilten, sei er definitiv nicht gerecht.
Wann ein Krieg gerechtfertigt ist, regelt heute das Völkerrecht. Die Beurteilung von Kriegen ist dort gegliedert in "Das Recht zum Krieg" (ius ad bellum) und "Das Recht im Krieg" (ius in bello).
Im Grunde sind alle Kriege völkerrechtswidrig. Es gibt aber Ausnahmen, die einen militärischen Einsatz rechtfertigen:
- Militärische Interventionen sind erlaubt, wenn der betroffene Staat sein Einverständnis gibt.
- Verteidigen des eigenen Territoriums ist erlaubt.
- Ein Einsatz ist legal, wenn ein Votum des UN-Sicherheitsrats vorliegt.
Aus Sicht von Florian Demont von der Militärakademie an der Universität ETH Zürich ist die Frage nach dem "gerechten" Krieg schwierig zu beantworten. Die Militärakademie ist Ausbildungsstätte für die Aus- und Weiterbildung der Berufsoffiziere der Schweizer Armee. Einer von Demonts Forschungsschwerpunkten ist die Militärethik. Ethisch entschuldbar seien kriegerische Handlungen dann, wenn sie auf den Schutz des Lebens abzielten. Also im Falle der Verteidigung.
Pro-Russische Separatisten im Panzer.Bild: AA / Stringer
Demont erklärt gegenüber watson:
"Wer nicht bereit ist, sich selbst, das eigene Umfeld, die eigene Lebensweise und die eigene Freiheit ohne Widerstand einem Aggressor zu opfern, wird die Notwehr als vernünftige Basis für eine gerechte Gewaltanwendung – sei es zwischenmenschlich im zivilen Alltag oder militärisch im Krieg – akzeptieren müssen."
Der aktuelle Krieg in der Ukraine ist laut Demont nicht "gerecht". Weder seien die völkerrechtlichen Bedingungen für einen rechtmäßigen Kriegsbeginn erfüllt worden, noch handele es sich um den Kampf für eine gerechte Sache oder um den letzten Ausweg. "Kurzum, der Kriegsbeginn war kein Fall kollektiver Notwehr", fasst Demont zusammen.
Es ist aus Sicht von Demont anspruchsvoll, die einschlägigen Grundbedingungen für eine ethische Anwendung militärischer Gewalt umzusetzen. Und auch bei der Durchführung eines Krieges müsse auf ethische Regeln geachtet werden. Demont nennt in diesem Zusammenhang die Verhältnismäßigkeit der militärischen Gewalt, sowie den Schutz der Zivilbevölkerung.
Die Frage des Erfolgs
Das eine ist der ethische Anspruch: Das, was richtig wäre.
Das andere die Realität.
Dass sich die Ukraine ergeben muss, davon geht der Militärsoziologe Martin Elbe nicht aus. Vielmehr rechnet er mit einer eingefrorenen Frontlinie, wie es sie auch in Korea gibt. Dann könne eine Verhandlungslösung angegangen werden, meint Elbe. "Das heißt nicht, dass ein fester Friedensvertrag zwangsläufig am Ende entstehen muss", fügt er an. Eine eingefrorene Waffenstillstandslinie könnte aber für längere Zeit der neue Grenzverlauf sein – denn der Militärsoziologe geht auch nicht davon aus, dass die Russen sich komplett zurückziehen werden.
"Die Frage, welche Opfer die Ukraine für ihre Freiheit bringen will und kann, ist eine Gewissensfrage, die ihr aus meiner Sicht niemand abnehmen kann."
Militärethiker Florian Demont
"Die Ukraine ist der schwächere Spieler in dem ganzen Krieg und das seit acht Jahren. Der Ukraine wurden Gebiete weggenommen, in Luhansk und Donezk. Und natürlich die Krim", sagt Elbe. Der historische Hintergrund spiele in dem Zusammenhang keine Rolle – sondern nur, was die aktuelle völkerrechtliche Situation ist. "Es geht um einen souveränen Staat, aus dem Gebiete herausgetrennt werden. Das können wir uns nicht wegwünschen und Selenskyj wird das Maximalziel, die Grenzen von vor 2014 wieder herzustellen, kaum durchsetzen können", sagt Elbe.
In der aktuellen Realität gebe es Gebiete, die die Russen besetzt haben. Ob sie diese zurückgeben, sei fraglich. Die Ukraine werde außerdem mit den Schäden leben müssen, die sie erlitten hat. Denn auch Reparaturzahlungen von Russland sind, aus Sicht von Elbe, unwahrscheinlich.
Die Frage des Preises
Wichtig sei es, meint Militärethiker Florian Demont, dass die Verteidigung der Freiheit verhältnismäßig ist. Im Fall der Ukraine wäre die Verteidigung der Freiheit dann unverhältnismäßig, wenn die Ukraine internationales Recht – insbesondere das Kriegsvölkerrecht – brechen würde. Demont fasst zusammen: "Die Frage, welche Opfer die Ukraine für ihre Freiheit bringen will und kann, ist eine Gewissensfrage, die ihr aus meiner Sicht niemand abnehmen kann."
Teile von Kyjiw sind den Bomben zum Opfer gefallen.Bild: NurPhoto / Ceng Shou Yi
Aus Sicht des Militärsoziologen Martin Elbe lässt sich der Preis der Freiheit nicht in Menschenleben beziffern. Möglich wäre es, Überlegungen der Moralökonomie zu nutzen, sagt er. "Man kann sich also die Frage stellen: Wann ist ein Gesamtnutzen höher, wann ist er niedriger", sagt Elbe. Der Nutzen sei dann optimal, wenn er nicht mehr gesteigert werden kann, ohne dass die andere Partei Einbußen hat.
Dieses Optimum könnte erreicht werden, wenn der Krieg beendet würde.
Elbe sagt:
"Wir haben aktuell dauernd die Situation, dass in der Ukraine Menschen sterben – sie also einen Verlust erleidet. Und wir haben nur noch einen geringen Nutzen zu gewinnen und sind weit entfernt davon, ein sozial-ökonomisches Optimum für die gesamte Region zu erreichen."
Das würde bedeuten, dass niemand mehr stirbt. Und dass die russischen Geländegewinne akzeptiert werden müssten – was aber wiederum nicht heißen müsse, dass diese Grenzverschiebung immer so bleiben werde.
Die Frage der Sicherheit
Die Bombardierung der ukrainischen Städte fordert auch viele zivile Opfer. Fluchtkorridore können aktuell allerdings nicht eingerichtet werden. Wie die "Tagesschau" berichtet, fürchtet die Regierung in Kyjiw russische Provokationen. Also damit, dass die Evakuierung sabotiert wird und Menschen auf dem Weg in die vermeintliche Sicherheit sterben.
Insgesamt, sagt der Militärsoziologe Martin Elbe, sind alle militärischen Handlungen gegen die Zivilbevölkerung Kriegsverbrechen. Wäre es möglich, alle Zivilisten durch Fluchtkorridore zu evakuieren und nur sogenannte Kombattanten (militärische Verteidiger) in den Städten zurückblieben, wäre der Angriff zwar weiterhin nicht gerechtfertigt, aber kein Verbrechen mehr.
Entschuldbar sei diese Kriegshandlung deshalb auch nicht, wenn nur Militärs betroffen wären. Aus einem einfachen Grund: weil der gesamte Angriffskrieg ungerechtfertigt ist.
Ethik und Moral im Krieg
"Bei Ethik und Moral geht es darum, was man tun und was man lassen soll: Was ist richtig und was ist falsch?", fasst Demont die große Frage zusammen. Gerade im Krieg prallten zwei ethische Erkenntnisse aufeinander:
"Einerseits wird jegliche Gewaltanwendung als unethisch und schlecht gesehen. Andererseits ist es normal, dass man das eigene Leben und das Leben von anderen sowie Güter, Freiheit und die eigene Kultur erhalten will – und zwar gerade auch dann, wenn diese durch Gewalt bedroht werden."
Es müsse deshalb abgewogen werden, wie sich die Ablehnung von Gewalt und der Schutz von Wichtigem im konkreten Fall zueinander verhielten. Allein diese Abwägung, der Diskurs, die Frage nach Recht und Unrecht bringe bereits Ethik und Moral mit in die Kriegssituation hinein, erläutert Demont.
Zivilisten verlassen Mariupol.Bild: AA / Stringer
Und dieser Diskurs sei ein guter Ausgangspunkt. Der Militärethiker Demont schließt:
"Damit schaffen sie die Keimzellen für einen künftigen Frieden, denn sie machen einen Schritt weg vom Kämpfen hin zum Denken und – hoffentlich – auch zum Dialog."
Auch der Militärsoziologe Elbe sieht die einzelnen Akteure weiterhin in der Verantwortung, über Recht und Unrecht zu urteilen. Und zwar, obwohl Kriege die Tendenz hätten, zu entgrenzen. Mit Entgrenzen meint der Soziologe die kollektive Gewalt, die von Gruppen und Einzelpersonen ausgeübt würde – und die immer neue Ausmaße erreiche.
Dass Ethik und Moral auch im Kampf – und in jedem Fall danach – Thema sind, zeigt, laut Elbe, das Kriegsvölkerrecht. Es entstand als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg und den Einsatz von Giftgas. Seither sind Massenvernichtungswaffen völkerrechtlich verboten.
Und trotz des Kriegsvölkerrechts stelle sich natürlich immer die Frage, wie weit eine Kriegspartei bereit ist zu gehen, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Dass Kriege oft radikaler würden, je länger sie dauerten, dürfe keine Entschuldigung sein.
Elbe sagt:
"Der Einzelne ist und bleibt für sein Handeln verantwortlich. In allen Situationen."