Für Gläubige ist die Kirche ein heiliger Ort. Den Priestern begegnen die meisten wohl mit Respekt. Schließlich sind sie Männer Gottes.
Warum sollte man ihnen nicht vertrauen – oder die eigenen Kinder anvertrauen?
Die Priester fahren mit den Kindern ins Ferienlager. Singen mit ihnen im Kirchenchor, nehmen ihnen die Beichte ab oder bereiten gemeinsam die Messe vor. Einige kommen ihnen dabei nahe – zu nahe.
Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche: Ein dunkler Schatten, den die machtvolle, geistige Institution hinter sich herzieht. Auch der kürzlich verstorbene Papst Benedikt XVI. war in diverse Skandale verwickelt. Zwar wurde ihm nie selbst der Missbrauch vorgeworfen – doch hat er etwaige Fälle zu vertuschen versucht? Mit jedem Missbrauchsfall, der aufgedeckt wird, tritt mehr Licht ins Dunkle. Im 21. Jahrhundert werden diese Vorfälle in der Kirche nicht mehr als Tabuthema geduldet. Früher sah das anders aus.
"Sexualisierte Gewalt galt nicht als Verbrechen", erklärt Christian Weisner im Gespräch mit watson. Er war er Mitinitiator des Kirchenvolksbegehrens "Wir sind Kirche" in Deutschland, das 1995 in Österreich nach dem Missbrauchsskandal um den Wiener Kardinal Hans-Hermann Groër entstand. Weisner gehört auch zu den Mitgründern von "Wir sind Kirche International" 1996 in Rom. Ziel dieser weltweit vernetzten Reformbewegung ist es, die römisch-katholische Kirche zu erneuern.
Ein wichtiges Thema ist hier vor allem die sexualisierte Gewalt in der Kirche. Denn offenbar halten manche in der Kirche noch immer an veralteten Auffassungen fest. Weisner sagt dazu:
Laut Weisner nahmen die Menschen damals an, dass die Erfahrung eines sexuellen Missbrauchs in der Regel schnell verarbeitet werde. Die lebenslangen Auswirkungen auf die Betroffenen seien nicht im Blick gewesen.
Auch war offenbar das Ansehen der Kirche wichtiger, als der Schutz der Kinder und Jugendlichen. "Sexuelle Angelegenheiten wurden in der Regel wie ein striktes Beichtgeheimnis betrachtet, das in keinem Fall gebrochen werden darf", sagt der Kirchenreformer. Der Männerbund zwischen den ehelosen Priestern und Bischöfen in der römisch-katholischen Kirche ermöglicht bis heute, dass sie einander decken.
Aufgrund des Zölibats verpflichten sich katholische Priester zu einem Leben ohne Ehe und damit auch zu sexueller Enthaltsamkeit. Weisner erklärt, dass die Kirche keinesfalls durchsickern lassen wollte, dass Priester eben nicht abstinent, sondern auch übergriffig und gewalttätig sein können. Er sagt dazu:
Zudem versuche die Kirche, Anzeigen bei den staatlichen Strafverfolgungsbehörden zu vermeiden. Manchmal werden Schweigegelder an die Betroffenen gezahlt, sagt Weisner. Denn jeder aufgedeckte Vertuschungsversuch der Kirche schade immens ihrem Ruf. Insbesondere dann, wenn etwa durch Versetzungen Beihilfe geleistet wurde – wie bei dem Fall des verstorbenen Papstes Benedikt XVI.
Bevor er Papst wurde, war Kardinal Joseph Ratzinger von 1977 bis 1982 Münchner Erzbischof. Unter seiner Obhut sind in dieser Zeit insgesamt vier Missbrauchstäter wieder in der Seelsorge eingesetzt worden. Der prominenteste Fall laut Weisner ist der aus Essen versetzte Priester H. Er wurde entgegen dem Rat des Therapeuten wieder im Gemeindedienst tätig.
Das zweite Münchner Missbrauchsgutachten im Januar 2022 hat dargelegt, dass dies mit Wissen von Joseph Ratzinger geschehen sein muss. "Doch er hat seine damalige Mitverantwortung durch irritierende Äußerungen und mithilfe teurer Anwälte infrage gestellt", meint Weisner. Das habe Ratzingers Ruf als "Mitarbeiter der Wahrheit", sein Bischofsspruch, am Ende seines Lebens außerordentlich geschadet.
Auch der am 10. Januar 2023 verstorbene Kardinal George Pell aus Australien hatte 2019 weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Wegen Kindesmissbrauchs erhielt er eine sechsjährige Haftstrafe. Pell wurde damit der ranghöchste Geistliche in der Geschichte der katholischen Kirche, der wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurde. In den 1990er Jahren soll er sich nach dem Gottesdienst an zwei Chorknaben vergangen haben, die damals 13 Jahre alt waren. Die Aussage eines früheren Chorknaben war maßgeblich für das Urteil.
Doch: Nach dreizehn Monaten war Pell schon wieder auf freiem Fuß.
Pells Verteidiger argumentierten, dass die Aussage des Opfers nicht ausreichend sei, um die Schuld des Kardinals zweifelsfrei festzustellen. Sie führten zudem an, nach einer Sonntagsmesse sei es unmöglich gewesen, dass ein Erzbischof fünf oder sechs Minuten in der Sakristei mit zwei Chorknaben allein war – so soll es bei einem Übergriff gewesen sein.
Aufgrund mangelnder Beweise war Pell wieder ein freier Mann und kehrte wenige Monate nach seiner Freilassung in den Vatikan zurück. Der ehemalige Chorknabe starb Medienberichten zufolge 2014 an einer Überdosis Drogen.
Obwohl sich Anschuldigungen gegen Pell hielten, machte er in der katholischen Kirche weiter Karriere. Er wurde später zum Vertrauten von Papst Franziskus, der ihn 2014 zum Präfekten des Wirtschaftssekretariats ernannte, um die Finanzen des Vatikans zu sanieren.
Welche Rolle spielt der Staat bei solchen Verbrechen? Müsste er mehr eingreifen? Der Kirchenreformer Weisner meint, ja.
Laut Weisner versagt der Staat oftmals als Aufsichtsbehörde, weil den kirchlichen Einrichtungen zu viel Vertrauensvorschuss entgegengebracht wird. Das haben staatliche Untersuchungsberichte, wie etwa in Irland und Australien aufgezeigt. "Bisher wurden die kirchlichen Ansprüche auf eine gerichtliche Selbstverwaltung naiv respektiert", sagt der Experte.
Mittlerweile sehe er aber einen Wandel in der Politik. So wurden etwa die Verjährungsfristen verlängert beziehungsweise aufgehoben. Auch die Stelle des unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs (UBSKM) bei der Bundesregierung habe viel zur Bewusstseinsänderung beigetragen und die Kirchen in die Pflicht genommen. Aber es müsse noch mehr geschehen, meint Weisner. Er sagt:
Im Jahr 2001 wurden alle Missbrauchsfälle weltweit bei Strafe der Exkommunikation, sprich Ausschluss aus der Kirche, unter das sogenannte "päpstliche Geheimnis" gestellt und mussten der Glaubenskongregation im Vatikan übergeben werden.
"Die Glaubenskongregation, die für die Lehre der Kirche zuständig ist und damals unter der Leitung von Kardinal Joseph Ratzinger stand, war fachlich, wie organisatorisch völlig überfordert", sagt Weisner. Was vorgeblich die Verfolgung der Täter effizienter machen sollte, diente letztlich eher der Vertuschung.
Die katholische Kirche sei durch die sexualisierte und auch geistliche Gewalt durch Kleriker in die wohl schwerste Krise seit der Reformation geraten, meint der Experte. "Letztlich bedarf es nicht nur struktureller Reformen, sondern einer Änderung des Priesterbildes und des christlichen Menschenbildes", meint Weisner.
(Mit Material der dpa)