Die Ein-Kind-Politik wurde im Jahr 2016 abgeschafft und auf drei "erlaubte" Kinder erweitert im Jahr 2021.Bild: Getty Images AsiaPac / Kevin Frayer
Analyse
China steht vor einer Bevölkerungskrise, weil es für Frauen nicht mehr attraktiv ist, Kinder zu bekommen. Die Ursachen des Problems sind zu einem beträchtlichen Teil hausgemacht – die Regierung von Präsident Xi Jinping tut sich schwer, Lösungen zu finden.
Nico Conzett / watson.ch
Chinas Bevölkerung ist in den vergangenen Jahren geschrumpft. Zwar betrug der Rückgang von 1.412.600.000 auf 1.411.750.000 Einwohner bei der letzten offiziellen Datenpublikation 2021 "lediglich" eine knappe Million, doch es ist das erste Mal seit 1960, dass überhaupt ein Minus bei der Gesamteinwohnerzahl verzeichnet wurde. Das berichtete das China National Bureau of Statistics, die chinesische Statistikbehörde.
Die Population im nach wie vor bevölkerungsreichsten Land der Welt scheint den Höhepunkt erreicht zu haben. China kämpft bereits heute mit einer eintretenden Überalterung der Bevölkerung. In den kommenden Jahren dürfte Indien China an der Spitze der weltweiten Bevölkerungsrangliste ablösen.
Die Regierung um Xi Jinping tut sich schwer damit, das Babyproblem in den Griff zu bekommen.Bild: AP / Thibault Camus
Gründe gibt es viele, für das Erreichen des chinesischen "Peaks". In erster Linie ist die Emanzipation und die damit veränderten Ansichten der chinesischen Frauen dafür verantwortlich, wie der US-Sender CNBC schreibt. Immer mehr Chinesinnen entscheiden sich dafür, auf Karriere und persönliche Ziele zu setzen, anstatt eine Familie zu gründen.
Chinas Geburten-Problem: Karriere und Corona sind mögliche Gründe
Obwohl die chinesische Politik die Gefahr längst erkannt hat und entsprechende Schritte unternahm – Abschaffung der Ein-Kind-Politik im Jahr 2016 und Erweiterung auf drei "erlaubte" Kinder im Jahr 2021 – wollen Frauen und ganz generell verheiratete Paare nach wie vor nicht mehr Kinder bekommen.
Ein weiterer Grund dafür ist die Coronapandemie, wie Mu Zheng, Assistenzprofessor für Soziologie an der National University of Singapore, gegenüber CNBC sagt: "Covid hat weiterhin viele negative Auswirkungen und ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft verursacht." Steigende Lebenshaltungskosten und ein Gefühl der Hilflosigkeit würden chinesische Frauen davon abhalten, Kinder zu haben.
Immer mehr Frauen streben eine Karriere an.Bild: IMAGO / Panthermedia
Doch nicht nur die Pandemie und der Einstellungswandel der Frauen lassen Chinas Reproduktionsrate sinken. Auch traditionelle Ansichten in der Gesellschaft limitieren die Entwicklung der Bevölkerungszahl. So hat der neuentdeckte Wille und die Möglichkeit der Frauen, Karriere zu machen, einen doppelt negativen Effekt: Chinas Frauen erwarten traditionell von einem potenziellen Ehegatten, dass er mehr verdient als sie und dass er Familienversorger sein kann.
Weil jedoch immer mehr Frauen besser oder gleich gut qualifiziert sind wie die potenziellen Ehemänner, finden sich immer weniger "würdige" Partner. Laut dem deutschen Statistik-Dienstleister Statista sind bereits jetzt über 40 Prozent der Teilnehmer an Bachelorstudiengängen Frauen. Noch extremer ist es bei den Masterstudiengängen, wo die Frauen bereits jetzt die Mehrheit stellen – und die Tendenz ist weiter steigend.
China könnte wie Japan bald gegen Überalterung kämpfen
Laut Ökonom Andy Xie sorgen die konservativ verankerten Sichtweisen bei gleichzeitiger Entwicklung der Chancengleichheit für eine "enorme Belastung" der chinesischen Männer, wie er gegenüber CNBC sagt. Single zu sein, sei zudem kein Stigma mehr, so wie das früher der Fall war. Als Resultat dieser sozialen Entwicklungen gibt es weniger (verheiratete) Paare und damit unweigerlich auch weniger Babys.
China droht damit in eine ähnliche Situation zu geraten, wie es sie im bezüglich Fertilitätsrate bereits seit Jahren schwächelnden Nachbarland Japan gibt. Dort ergab jüngst eine Umfrage, dass die Hälfte aller unverheirateten 30-Jährigen kein Interesse daran hat, jemals Kinder zu bekommen, wie "Kyodo News" berichtete. Japan kämpft schon seit langem mit der Überalterung und dem Rückgang der Bevölkerung.
Weil sich die chinesische Regierung schwertut, Lösungen zu finden, die das Problem nachhaltig beheben, gibt es vermehrt Bestrebungen aus der Privatwirtschaft, sich der neuen gesellschaftlichen Realität anzupassen. Ein großes chinesisches Reisebüro beispielsweise, versucht, mit einer maßgeschneiderten Lösung, einer Art Schwangerschaftssubvention, Frauen Karriere und Kind zu ermöglichen. So zahlt das Unternehmen hohe Vergütungen an Frauen, die ihre Eizellen einfrieren lassen. Die Kosten für dieses Prozedere sind hoch und privat kaum zu finanzieren.
Viele Frauen wollen lieber Karriere machen als Kinder bekommen.Bild: Getty Images AsiaPac / Kevin Frayer
Der Plan des Reisebüros sieht dann vor, dass die Frauen bis zu acht Jahren voll auf die Karriere im Unternehmen setzen und dabei stets die Möglichkeit haben, Kinder zu bekommen, wenn sie sich bereit dafür fühlen. Die Entscheidung für ein Kind wird dann ebenfalls honoriert – beispielsweise erhalten Schwangere Spesen für Taxifahrten an den Arbeitsplatz und Geld, wenn das Kind geboren und eingeschult wird. Einen Haken gibt es bei der Sache dennoch: Um Eizellen einzufrieren, müssen Frauen gemäß chinesischem Recht verheiratet sein – was aufgrund der geschilderten gesellschaftlichen Entwicklungen ebenfalls eine Hürde darstellt.
Der Ansatz des Reisebüros ist nur einer von vielen, die in China ausprobiert werden, um die drohende Bevölkerungskrise in den Griff zu bekommen. Jüngst machte beispielsweise eine staatlich finanzierte Datingapp Schlagzeilen:
China versuchte während Jahren die explodierende Bevölkerungszahl künstlich zu beschränken. Doch die ohnehin folgenreiche Ein-Kind-Politik könnte sich, kombiniert mit den veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten, schon bald als gnadenloser Bumerang erweisen.
Einige Forscher prognostizieren China eine Schrumpfung der Bevölkerung um die Hälfte bis ins Jahr 2100, wenn in der Gegenwart keine Maßnahmen ergriffen werden. Für die chinesische Wirtschaft und das Weltmachtstreben des Landes wäre diese Entwicklung ohne Zweifel verheerend.
Rolf Mützenich ist der Fraktionschef der SPD. In zahlreichen Debatten spricht er für seine Partei im Bundestag. Mützenich ist bekannt für seine Friedenspolitik, gleichzeitig half er aber auch bei der Durchsetzung des Sondervermögens für die Bundeswehr.