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Putin will mehr: Rollen bald 137.000 russische Soldaten auf die Ukraine zu?

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Es fehlt an Personal: Russische Soldaten bewachen ein Gebiet neben einem Weizenfeld.Bild: AP / Uncredited
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Rollen bald 137.000 frische russische Soldaten auf die Ukraine zu? Das sagt ein Experte

Für die Russen wird es in der Ukraine zunehmend unangenehm. Können Sie sich mit einer Aufstockung der Truppen aus dieser Lage befreien? Das sagt Russland-Experte Mikhail Polanskii.
01.09.2022, 16:2101.09.2022, 17:08
Corsin Manser / watson.ch
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Die russische Armee steht unter großem Druck. Die Ukraine hat am Montag den Start ihrer Gegenoffensive im Süden des Landes verkündet und feuert seither in hoher Kadenz Raketen auf russische Stellungen. Eine Rückeroberung der besetzten Stadt Cherson und der Gebiete westlich des Flusses Dnepr scheint aktuell realistisch.

Weiter südlich, auf der Krim, hat sich die Lage für Russland ebenfalls zugespitzt. Die Ukrainer zerstörten im August eine wichtige Luftwaffenbasis, attackierten Munitionslager und Kommandoposten. Die besetzte Halbinsel ist für die Russen kein sicherer Ort mehr.

Nicht viel besser sieht es für die Russen im Osten der Ukraine aus. Seit Wochen versuchen sie, die Städte Bachmut, Slowjansk und Kramatorsk einzunehmen. Doch sie kommen kaum vom Fleck.

Da stellt sich die Frage: Kann Moskau seine Anstrengungen nochmals intensivieren und sich aus der brenzligen Lage befreien?

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Die Stadt Slowjansk ist seit Wochen unter Beschuss: Ein Feuerwehrmann macht Pause während eines Einsatzes.Bild: AP / Leo Correa

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Keine Kapazitäten für schnelle Ausbildung

Dass die russische Armee zusätzliches Personal braucht, hat auch Putin eingesehen. Vergangene Woche erhöhte er per Dekret die Zahl seiner Soldaten. Bis zum 1. Januar sollen die Truppen um 137.000 Personen auf 1.15 Millionen Mann aufgestockt werden.

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Einem Plakat im russischen Kasan:"Ruhm für die Helden Russlands" – Wladimir Putin will seine Armee aufstocken.Bild: www.imago-images.de / imago images

Rollen da also bald Zehntausende frische Soldaten auf die Ukraine zu? "Nein", meint Mikhail Polianskii vom Leibnitz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung. Polianskii ist selber Russe und ist vor drei Jahren der Arbeit wegen nach Deutschland gezogen. "Russland hat nicht die Kapazitäten, um große Massen an untrainierten Männern innerhalb kürzester Zeit zu guten Soldaten auszubilden."

Die russische Armee habe während des vergangenen halben Jahres viele professionelle Mitglieder verloren. Diese würden nun fehlen, um die neuen Soldaten fürs Schlachtfeld vorzubereiten, so Polianskii.

Zu Beginn der Invasion hatte Russland etwa 190.000 Mann im Feld. Doch 80.000 Soldaten dürften seither getötet oder verwundet worden sein, schätzt das Pentagon.

Jetzt versuche der Kreml diese hohen Verluste unter anderem mit neuen Wehrpflichtigen zu kompensieren, sagt Polianskii. Normalerweise würden im Herbst und im Frühling jeweils 130.000 junge Männer für einen einjährigen Dienst in die Armee eintreten. "Doch letzten Frühling waren es 50.000 weniger", so Polianskii. "Das ergibt auch absolut Sinn. Welcher junge Mann will denn in einen Krieg ziehen?"

Die Duma habe ein Gesetz erlassen, wonach Wehrpflichtige bereits nach vier Monaten Training in den Krieg geschickt werden können. "Dies, obschon Putin zu Beginn gesagt hat, dass Wehrpflichtige nicht kämpfen müssen." Dies zeige, wie sehr die russische Armee mittlerweile von schlecht ausgebildeten Kämpfern abhängig sei, so Polianskii.

Diese seien aber nur bedingt hilfreich. "Sie können die Truppen vielleicht logistisch unterstützen oder dabei helfen, die Frontlinien zu verteidigen. Aber für Offensiv-Manöver braucht es gut ausgebildete Truppen." Für Polianskii ist klar: "Die russische Armee hat einen enormen Personalmangel."

In this handout photo taken from video released by Russian Defense Ministry Press Service on Monday, Aug. 29, 2022, a Russian soldier fires from a Kornet, a Russian man-portable anti-tank guided missi ...
Ein russischer Soldat feuert eine Anti-Panzer-Waffe ab. Für Offensiv-Manöver bräuchte es ausgebildetes Personal.Bild: Russian Defense Ministry Press Service

Für den Kreml dürfte es schwierig werden, die Armee nur mit Wehrpflichtigen um die angekündigten 137.000 Personen aufzustocken. Zumal sich gut situierte Russen für rund 150.000 bis 200.000 Rubel (etwa 2500 bis 3200 Franken) aus dem Militärdienst freikaufen können, wie Polianksii erzählt. Der Forscher vermutet deshalb, dass die russische Regierung die Wehrpflichtzeit von ein auf eineinhalb Jahre erhöhen könnte, um die angestrebte Aufstockung an Soldaten zu erreichen. Denkbar sei auch die offizielle Einverleibung der Kämpfer aus den Gebieten Donezk und Luhansk in die russische Armee.

"Russland dürfte ernsthafte Schwierigkeiten haben, in so kurzer Zeit eine so große Zahl neuer Soldaten zu mobilisieren", schreibt auch das renommierte "Institute for the Study of War" (ISW). Schon vor dem Überfall habe die russische Armee nur 850.000 aktive Soldaten umfasst – also deutlich weniger als die Million, die auf dem Papier steht.

Verzweifelte Suche nach Personal

Seit Wochen hat Russland das Dritte Armeekorps aufgestellt, das in diesen Tagen die Truppen im Feld verstärken soll. Doch auch hier präsentiert sich dasselbe Problem: Die Rekruten des dritten Armeekorps seien unausgebildet, unfit und alt, schreibt das ISW.

Die Russen suchen momentan derart verzweifelt nach Personal, dass sie sogar in Gefängnissen nach potenziellen Rekruten Ausschau halten. Laut dem russischen Onlineportal Mediazona soll Jewgenij Prigoschin höchstpersönlich nach "Mördern und Räubern" gefahndet und ihnen viel Geld geboten haben, wenn sie sich für den Krieg in der russischen Armee melden. Prigoschin gilt als enger Vertrauter Putins und soll für die Aufstellung der Söldnertruppe Wagner verantwortlich sein, die ebenfalls in der Ukraine kämpft.

Eine Karte, die Putin bisher noch nicht gezogen hat, ist die Generalmobilmachung. Dann würden rund 900.000 Reservisten einberufen. Die Pflicht zum Reservedienst gilt für Männer bis zum Alter von 50 Jahren. Doch auch bei einer Generalmobilmachung müssten die neuen Kräfte noch einmal ausgerüstet und neu trainiert werden.

Auf die Schnelle wird Putin die Kampfkraft seiner Truppen also nicht wesentlich stärken können. Für weitere Gebietsgewinne fehle den Russen das Personal, sagt Polianskii. Aber die Verteidigung des bisher eroberten Territoriums sei eine andere Sache. "Für eine erfolgreiche Offensive braucht es etwa ein Kräfteverhältnis von 4:1", sagt der Forscher. Es sei zwar möglich, dass die Ukraine die Gebiete westlich des Dnepr zurückerobere. "Aber ein Spaziergang wird das nicht."

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