Der ehemalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow ist nach schwerer und langer Krankheit am Dienstagabend im Alter von 91 Jahren in Moskau gestorben.Bild: AP / Ivan Sekretarev
International
31.08.2022, 11:3231.08.2022, 11:39
Die Welt trauert um einen großen Politiker und
Versöhner: Der russische Friedensnobelpreisträger Michail
Gorbatschow, einer der Väter der deutschen Einheit, ist tot. Im Alter
von 91 Jahren starb der frühere sowjetische Präsident am
Dienstagabend nach langer schwerer Krankheit, wie das Zentrale
Klinische Krankenhaus (ZKB) in Moskau mitteilte. Vor allem Politiker
im Ausland würdigten Gorbatschow als Staatsmann von Weltrang, der den
Kalten Krieg beendete und Millionen Menschen die Freiheit gab.
Seinen Platz in der Geschichte sicherte sich der am 2. März 1931
in Priwolnoje (Region Stawropol) im Nordkaukasus geborene Gorbatschow
schon Ende der 1980er Jahre: Mit seiner Politik von Glasnost
(Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) schuf er die Voraussetzung
für das Ende der jahrzehntelangen Konfrontation zwischen Ost und West
und auch für den Fall der Berliner Mauer 1989.
US-Präsident Joe Biden lobte am Mittwoch auch Gorbatschows
Engagement für Abrüstung. "Als Führer der UdSSR arbeitete er mit
Präsident Reagan zusammen, um die Atomwaffenarsenale unserer
beiden Länder zu reduzieren – zur Erleichterung der Menschen
weltweit, die für ein Ende des atomaren Wettrüstens beteten."
Trotz Schaffenskraft: Gesundheitliche Probleme nahmen zu
In den letzten Jahren war Gorbatschow – von den Deutschen gern
"Gorbi" genannt – besonders noch als Buchautor aktiv und meldete sich
zu aktuellen Themen wie im Ukraine-Konflikt zu Wort. Laut
Weggefährten verurteilte der gesundheitlich zuletzt extrem
geschwächte Gorbatschow auch den Angriffskrieg gegen das Nachbarland.
Eine offizielle Reaktion ist aber nicht überliefert. In den Jahren
zuvor hatte Gorbatschow allerdings auch immer wieder beklagt, dass es
nach der maßgeblich von Moskau unterstützten deutschen Einheit heute
wieder Feindbilder wie zu Zeiten des Kalten Krieges gebe. Er sah auch
eine Entfremdung zwischen Deutschen und Russen.
In seinem letzten Buch "Was jetzt auf dem Spiel steht"
kritisierte er ein "Triumphgehabe" des Westens. "Gorbi" war
enttäuscht, dass die Deutschen mit der EU und den USA im
Ukraine-Konflikt eine Politik der Sanktionen gegen Russland fahren.
"Das erklärte Ziel ist es, Russland zu bestrafen." Die Strafmaßnahmen
für die russische Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel
Krim von 2014 wollte er ebenso wenig einfach hinnehmen wie der Kreml.
"Denn die Sanktionen haben nur eine einzige Wirkung: Die gegenseitige
Entfremdung nimmt zu."
Michail Gorbatschow und Staats- und Parteichef der DDR, Erich Honecker, tauschten auf dem Ostberliner Flughafen Schönefeld einen Kuss aus.Bild: AP / Uncredited
Bei aller Schaffenskraft in den letzten Jahren mit vielen
Interviews plagten Gorbatschow schwere gesundheitliche Probleme.
Immer wieder kam er ins Krankenhaus. Seine letzte Ruhe finden soll
"Gorbi" auf dem Neujungfrauenfriedhof in Moskau – für prominente
Russen – neben seiner Frau Raissa. Ihren frühen Tod bezeichnete er
stets als schweren persönlichen Schlag. Raissa starb 1999 in einer
Klinik in Münster an Krebs.
Bei den 30-Jahr-Feiern 2019 zum Mauerfall fehlte Gorbatschow aus
gesundheitlichen Gründen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
dankte ihm damals in einem Brief: "Wir werden nicht vergessen, dass
das Wunder der friedlichen Wiedervereinigung meines Landes und das
Ende der Teilung Europas nicht möglich gewesen wäre ohne die mutigen
und menschlichen Entscheidungen, die Sie damals persönlich getroffen
haben."
Die in den 80er Jahren auch von DDR-Bürgern glühend aufgenommene
neue politische Linie Moskaus hin zu mehr Offenheit gilt bis heute
als Durchbruch zu Freiheit und Demokratie in Osteuropa. Die damalige
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) lobte Gorbatschow zu dessen 80.
Geburtstag als weitsichtige Persönlichkeit, die die friedliche
Revolution mit ermöglicht habe. 1990 erhielt er dafür den
Friedensnobelpreis.
Gorbatschow blieb seinen Idealen treu
Bis heute steht sein Name zudem für eine historische atomare
Abrüstung, die er damals mit Reagan auf den Weg gebracht hatte. Vor
seinem Tod musste "Gorbi" aber noch mit ansehen, wie ein
Abrüstungsvertrag nach dem anderen endete. Er warnte vor einem neuen
Rüstungswettlauf: "Die Gefahr einer Militarisierung von Weltraum und
Cyberspace ist real und in ihren möglichen Folgen katastrophal."
Einst wollte der damalige Kremlchef mit seinen Reformen noch den
Kommunismus modernisieren – am Ende leitete er selbst den Zerfall der
Supermacht Sowjetunion ein, das Aus des kommunistischen
Machtimperiums. Viele seiner Mitbürger nahmen ihm das übel. In ihren
Augen war Gorbatschow ein führungsschwacher Politiker ohne
Machtinstinkt, der "Totengräber der Sowjetunion". Er habe das Land
mit politischen Fehlern in Chaos, Hunger und Armut gestürzt, hieß es.
In einer Bilanz meinte der frühere Staats- und Parteichef einmal,
die sowjetische Gesellschaft sei unreif gewesen für massive Reformen.
Doch musste Gorbatschow selbst mit Herausforderungen kämpfen, denen
er nicht gewachsen war. Zu seinen schwersten Momenten gehörte die
Explosion eines Reaktors im Kernkraftwerk von Tschernobyl 1986. Sie
führte nicht nur zur größten Atomkatastrophe in der zivilen Nutzung
der Nuklearenergie mit tödlichen Folgen radioaktiver Verstrahlung.
Der Super-Gau steht auch als Symbol für den Anfang vom Ende der
Sowjetunion.
Michael Gorbatschow spricht mit Wladimir Putin zu Beginn einer Pressekonferenz 2004 in Schleswig-Holstein.Bild: AP / Heribert Proepper
Trotz oft breiter Ablehnung in der Heimat blieb Gorbatschow
seinen Idealen treu. Wiederholt prangerte er die heutige Kremlpartei
Geeintes Russland als "schlechte Kopie der Kommunistischen Partei der
Sowjetunion" an. Die Verfassung, die Gerichte, das Parlament – alles
sei eine "Imitation von Demokratie". Präsident Wladimir Putin habe
seine Macht so zementiert, dass anderen politischen Kräften keine
Luft zum Atmen bleibe, meinte er.
Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise kritisierte Gorbatschow
nicht zuletzt den Westen scharf. Dieser Konflikt habe eine "globale
Unordnung" mit internationaler Kriegsgefahr geschaffen – und Russland
sei nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht als Partner
behandelt worden. Die USA bezeichnete er sogar einmal als "Seuche der
Welt". Als einen Verrat des Westens an den Zugeständnissen an Moskau
bei der deutschen Wiedervereinigung empfand er stets die
Osterweiterung der Nato.
Ende der Sowjetunion bedeutete auch politisches Ende von Gorbatschow
Bis Gorbatschow am 11. März 1985 zum Generalsekretär der
Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt wurde, hatten
sich Kremlherrscher meist bis zum Tod an die Macht geklammert. Er und
seine Frau Raissa gaben der Politik der kommunistischen Apparatschiks
erstmals überhaupt auch ein menschliches Gesicht. Ohne Blutvergießen
ließ er als Führer des größten Landes der Erde nicht zuletzt die in
ein Bündnis mit der UdSSR gezwungenen Ostblock-Länder Polen, Ungarn,
die Tschechoslowakei sowie andere los.
Als die Sowjetunion mit den 15 Mitgliedsstaaten zerfiel und viele
Völker ihre Unabhängigkeit erlangten, war das 1991 nach einem
Putschversuch in Moskau und der Machtergreifung von Boris Jelzin
(1931-2007) schließlich auch sein Ende. "Gorbatschow hatte kein Glück
mit uns. Aber wir hatten Glück mit ihm. Das ist die Wahrheit, die wir
erst noch lernen müssen", meinte die Politologin
Schewzowa.
(lc/dpa)
Als wäre der russische Angriffskrieg in der Ukraine nicht schon genug, eskaliert der Konflikt weiter. Nach russischen Angaben hat das Land am Donnerstagmorgen mit einer neu entwickelten Mittelstreckenrakete die ukrainische Großstadt Dnipro beschossen, eine "Hyperschall-Rakete". Sechs Sprengköpfe schlugen dort ein. Der russische Präsident Putin sagte, es seien keine Atomsprengköpfe gewesen.