Seit etwa drei Monaten geht die Ukraine auf Angriff, doch der Erfolg ist offenbar mühsam und verlustreich.Bild: AP / Alex Babenko
Analyse
18.09.2023, 17:5418.09.2023, 20:51
Vor 18 Monaten erwachten Millionen von Menschen in der Ukraine vom Lärm der Luftangriffssirenen. Ein Geräusch, das heute zum Alltag der Ukrainer:innen gehört. Seither wehrt sich die ukrainische Armee gegen den brutalen Angriff Russlands.
Im Februar 2022 äußerten Expert:innen noch Zweifel, ob die Ukraine dem Überfall standhalten würde. Heute diskutieren sie über den Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive. Die Ukraine geht auf Angriff, will vor allem die russischen Verteidigungslinien im Süden des Landes durchbrechen.
Erneut gibt es Bedenken, ob die Ukraine das Zeug dazu hat.
Ukrainische Soldaten feuern auf russische Stellungen.Bild: AP / LIBKOS
Die ukrainischen Streitkräfte starteten vor gut drei Monaten eine Gegenoffensive. Expertenstimmen erklären nun, das Vorhaben sei gescheitert – doch Erfolg im Krieg ist wohl am Ende eine Frage der Interpretation.
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Laut US-Generalstabchef verspricht die ukrainische Gegenoffensive Erfolge
Zwar gehe die Gegenoffensive langsamer voran als erwartet, dafür sei sie aber beständig und mit Teilerfolgen verlaufen, verkündet US-Generalstabchef Mark Milley dem Fernsehsender CNN. Laut ihm verfügt die Ukraine über eine große Kampfkraft. Die Gegenoffensive sei aus seiner Sicht also nicht gescheitert. In der Ostukraine soll die Armee nach eigenen Angaben etwa das bisher russisch besetzte Dorf Klischtschiwka, in der Nähe von Bachmut, zurückerobert haben.
Auch der niederländische NATO-Admiral Rob Bauer zeigt sich optimistisch. Auf der Jahreskonferenz des Nato-Militärausschusses in Oslo sagt er, das ukrainische Militär dränge die russischen Truppen täglich 200 bis 300 Meter zurück. Laut ihm werde die Ukraine aber von einem Umstand besonders ausgebremst: die enorme Menge russischer Minen. So gebe es kilometerweite Felder mit fünf bis sechs Sprengsätzen pro Quadratmeter.
Ein ukrainischer Minenräumer sucht auf dem Feld eines befreiten Dorfes in der Südukraine nach Minen.Bild: AP / Bernat Armangue
"Die überzogenen Erwartungen zerbrachen an den russischen Verteidigungslinien und vor allem den hektargroßen Minenfeldern", sagt Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov auf watson Anfrage.
Ukraine ist heute das größte Minenfeld weltweit
In der Zeit, als der Westen nach und nach seine Technik an die Ukraine lieferte, legten russische Truppen Minenfelder an, die sich über Kilometer in Tiefe und Breite erstrecken, führt der Experte von der Freien Universität Berlin aus. Zahlreiche ukrainische Kriegsreporter gaben ihm zufolge an, dass die Minenfelder das Schlimmste an der Offensive seien – an manchen Frontabschnitten sei jeder Quadratmeter mit Antipersonen- und -panzerminen besetzt.
"Dagegen helfe weder westliche Technik noch der ukrainische 'Offensivwille'. Dass die ukrainische Offensive nicht so schnell ging, wie man es erwartete, ist mittlerweile Fakt", sagt Gerasimov.
Söldner der russischen Privatarmee Gruppe Wagner mit Panzerabwehrminen.Bild: imago images / Viktor Antony
Mittlerweile gilt die Ukraine als "das größte Minenfeld" der Welt. Heute sollen etwa 40 Prozent der gesamten Landfläche der Ukraine vermint sein, sagt der ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal in einem Interview mit der südkoreanischen Nachrichtenagentur Yonhap.
"Wenn man von Minen spricht, geht es nicht nur um diese runden Dinger, die man im Boden vergräbt, sondern um alle explodierbaren Kriegshinterlassenschaften", sagt Hansjörg Eberle im Gespräch mit watson. Er ist Geschäftsführer der Fondation suisse de déminage (FSD). Eine schweizerische Nichtregierungsorganisation, die sich auf die Minenräumung spezialisiert – auch in der Ukraine.
Minen sind nicht gleich Minen
Die
Bundeswehr unterscheidet zwischen Schützenabwehr-, Panzerabwehr- und Spezialminen. Schützenabwehr- oder Antipersonenminen sollten – meist durch Splitterwirkung – Personen verletzen oder töten, während Panzerabwehrminen sich gegen Fahrzeuge richten. Mit Minensperren könne man den Gegner lenken und verlangsamen.
Minenräumung ist auf Flugabwehr angewiesen
Minen seien aus militärischer Sicht ein großes Problem für die Ukraine, meint Eberle. "Die Ukraine muss sich zunächst durch das Minenfeld kämpfen, doch sind die Verteidigungslinien der Russen erreicht und durchbrochen, kann sich die ukrainische Streitkraft in das gegnerische Feld einbringen", führt er aus.
Zur Minenräumung nutze das Militär etwa spezielle Minenräumpanzer, die mit großen Schaufeln alles aus dem Weg räumen, oder auch Raketen, die explosive Zündschnüre hinter sich herziehen. "Wenn diese auf der Erde aufprallen, kommt es zur Explosion, wodurch auch ein Teil der Minen in die Luft geht", erklärt Eberle.
Auch im Einsatz: Ein Minenräumpanzer Keiler, der etwaig verlegte Minen auslöst.Bild: imago images / Björn Trotzki
Diese militärischen Techniken zielen darauf ab, möglichst schnell durch das Minenfeld zu rücken. Aber die Landfläche absolut von Minen zu befreien, ist ein anderes Kapitel, das noch auf die Ukraine zukomme – ein langwieriges, betont Eberle.
Die Nichtregierungsorganisation von Eberle fokussiert sich auf die humanitäre Minenräumung. Den Kampfzonen dürfen sich die Mitarbeitenden nicht nähern. Die Ansage der Ukraine laute: Es muss ein Sicherheitsabstand von etwa 50 Kilometern zur Front eingehalten werden und 30 Kilometer zur russischen Grenze. Denn: "Wir sind Zivilisten und nicht am Krieg beteiligt, zudem soll vermieden werden, dass wir selbst Ziel von etwa Artilleriebeschuss werden", sagt Eberle.
Nicht explodierte russische Kampfmittel, die eine ukrainische Minenräumeinheit eingesammelt hat.Bild: imago images / Michael Brochstein
Wer sich auf stark vermintes Territorium bewegt, wird leicht zur Zielscheibe aus der Luft.
Was besonders tragisch für die Ukraine verläuft, denn die Luftüberlegenheit an der Front gehört noch immer den Russen. Dänemark und die Niederlande wollen nun F-16-Kampfjets an die Ukraine liefern, um das zu ändern. Und wie sieht es mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) aus bei der Minenräumung?
Wolodymyr Selenskyj und Mette Frederiksen, Ministerpräsidentin von Dänemark, sitzen in einem F-16-Kampfjet.Bild: Ritzau Scanpix Foto/AP / Mads Claus Rasmussen
KI kommt laut Eberle in der Praxis noch nicht vor. "Das ist die Musik der Zukunft. KI ist vielversprechend, aber beeinflusst die Minenräumung heute kaum." Was aber bald einen großen Einfluss auf den Kriegsverlauf nehmen könnte, ist das Wetter.
Regen, Schlamm, Schnee – die kalten Monate drohen
"Schon bald tritt die 'Rasputiza' an, also die totale Verwischung der Logistikwege durch Herbstregen in der ukrainischen Steppe", sagt Gerasimov. Diese Zeit spiele zweifelsohne für die Russen, die sich weiter eingraben werden. Allgemein gilt der Winter auf dem Schlachtfeld als Pausenzeit, führt der Konfliktbeobachter aus. Doch russische Kriegsreporter:innen sehen wohl den Winter als Momentum für die russische Armee.
Aus russischer Sicht sei die ukrainische Armee durch herbe Verluste geschwächt: Nun komme die Zeit für die russische Gegen-Gegenoffensive. Zumal die Winterzeit auch geschichtlich gesehen gerade in der russischen Geschichtsschreibung oftmals für die wichtigsten Offensiven genutzt wurde, sagt Gerasimov. Laut ihm rechnet wohl auch die Ukraine damit, dass die Russen im Winter traditionell angreifen könnten.
Er führt aus:
"Dementsprechend lauter werden die Stimmen, dass ukrainische Truppen sich für den Winter auf einen ermüdenden Stellungskampf einstellen müssten. Das nächste Momentum für ukrainische Truppen käme demnach wohl erst im Frühling 2024 – nachdem die russische Winteroffensive überstanden ist und westliche Kampfjets an der Front sind."
Doch zurück in die Gegenwart: Laut Gerasimov erzielt die Ukraine derzeit besonders große Erfolge im Frontabschnitt bei Orichiw in Richtung Robotyne. Orichiw ist eine Stadt in der Oblast Saporischschja in der Südukraine.
"Dort konnten ukrainische Truppen seit Beginn der Offensive etwa 20 Kilometer in die Tiefe bis an die erste russische Verteidigungslinie vorrücken und diese an manchen Stellen vereinzelt überqueren", sagt er. Allerdings sei dieser Erfolg mit massiven Verlusten an Menschenleben und Material verbunden.
Auch Gerasimov ist der Auffassung, dass die ukrainische Offensive derzeit zweifelsohne hinter den Erwartungen zurückbleibt. "Ukrainischen Offizielle sprachen Anfang des Jahres davon, im September auf der Promenade der Krim zu flanieren. Die Realität ist eindeutig Welten davon entfernt", meint er.