Die Sicherheitslage auf dem europäischen Kontinent ist seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine aus den Fugen geraten. Die Nato, die zuvor unter anderem von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für hirntot erklärt wurde, ist aktuell wieder gefragt wie lange nicht. Gemeinsam unterstützen die Mitgliedsstaaten die Ukraine – die USA geht in gewohnter Manier voraus.
Was aber ist, wenn das Worst-Case-Szenario bei der Wahl 2024 eintritt – und Donald Trump erneut Präsident wird? Was Trump von der Nato hält, ist bereits in der ersten Amtszeit des Ex-Präsidenten deutlich geworden. Sein ehemaliger Berater John Bolton erklärte in einem Gespräch mit der "Washington Post", Trump hätte das Bündnis in einer zweiten Amtszeit sicher verlassen.
Die Chancen, dass Trump die US-Bürger:innen erneut von sich überzeugen kann, stehen trotz all seiner Gerichtsprozesse gut. Was würde das für die Sicherheitsarchitektur in Deutschland und Europa bedeuten?
Erik Brown vom Global Public Policy Institute – eine unabhängige geopolitische Denkfabrik – bringt das Problem für watson folgendermaßen auf den Punkt: Den europäischen Staaten fehlen technische, militärische Fähigkeiten, weshalb sie auf die USA angewiesen sind: "Ganz zu schweigen von dem nuklearen Schutzschirm, den die Vereinigten Staaten über den größten Teil des europäischen Kontinents spannen."
Ähnlich sehe die Situation bei der Unterstützung der Ukraine aus. Wenngleich die europäischen Staaten ähnliche Positionen wie die USA vertreten, würden laut Brown die Entscheidungen über Waffensysteme, die geliefert werden, auf der anderen Seite des Atlantiks getroffen.
Klar sei aber, dass die russische Invasion Schwachstellen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik offengelegt hätte. Die anstehende US-Wahl, meint Brown, erhöht den Druck auf die EU und die Mitgliedsstaaten. Mittlerweile sei nahezu allen Ländern klar, dass es ein Problem gibt – ein erster Schritt, erklärt Brown.
Der Sicherheitsexperte schlägt eine zweigleisige Strategie vor: Schritt eins müsse sein, dass die EU-Staaten gemeinsam die Sicherheitslücken schließen, die dem Kontinent ohne die Unterstützung der USA gefährlich würden. "Dieser Schritt bedeutet zwangsläufig eine Erhöhung der europäischen Verteidigungsinvestitionen", stellt Brown klar.
Laut Wolfgang Hellmich gehen die Mitgliedsstaaten diese Problematik bereits seit Jahren an. Hellmich ist der sicherheits- und verteidigungspolitische Sprecher der SPD. Deshalb, meint er, sei beispielsweise 2017 die EU-Verteidigungsinitiative für die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit gegründet worden. Ziel des Zusammenschlusses: Gerade bei teuren militärischen Beschaffungen sollen Doppelungen unter den Europäern vermieden werden.
Als weiteres Beispiel für die verteidigungspolitische Zusammenarbeit der EU nennt Hellmich die European Sky Shield Initiative. Die Idee dahinter ist es, die Lücken im europäischen Schutzschirm zu schließen.
Sicherheitsexperte Brown stellt klar, dass diese gemeinsame Ausbesserung der europäischen Sicherheitsstrategie unabhängig von einem möglichen Sieg Trumps umgesetzt werden müsste. Denn auch Präsident Joe Biden hat bereits klargestellt, dass die USA sich darauf verlassen, dass Europa mehr Verantwortung im Verteidigungsbündnis übernimmt.
Auch hier, meint Hellmich, würde innerhalb der EU schon einiges passieren. Er nennt beispielsweise den Schutz der Kritischen Infrastruktur, den die EU in den Fokus genommen hat. Abstimmungsprozesse in Bündnissen bräuchten allerdings ihre Zeit: Europa sei auf einem guten Weg, die eigene Sicherheitsarchitektur zu stärken, räumt der SPD-Politiker ein.
Man dürfe sich aber trotz allem Fortschritt nichts vormachen, stellt er klar:
Auch der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter stellt auf watson-Anfrage klar: Europa wird in Zukunft zwar "östlicher, dynamischer, verteidigungsbereiter und in der Ausrichtung transatlantischer werden" – aber ohne eine Sicherheitspartnerschaft mit den USA wird es nicht gehen. Insbesondere im Bereich der nuklearen Teilhabe sei Europa auf die USA angewiesen.
Kiesewetter macht deutlich: "Damit die USA – auch unter einem anderen Präsidenten als Biden – weiterhin an einem starken transatlantischen Bündnis mit Europa Interesse haben, müssen wir zwingend für eine glaubwürdige Lastenteilung sorgen." Meint: Die EU-Länder müssen NATO-Verpflichtungen wie die 2-Prozent-Zusage für den Verteidigungshaushalt umsetzen. Kiesewetter nennt das "europäisches Engagement auf Augenhöhe".
Für die Zukunft sei es zudem wichtig, dass die EU "Smart-Power Fähigkeiten" ausbaut. Kiesewetter zählt auf:
Vor allem aber gehe es um ein Mindset, nämlich die Bereitschaft, für Freiheit und die regelbasierte Ordnung zu kämpfen. Außerdem müsse die Wirtschaft dynamischer auf kriegerische Bedrohungen eingestellt werden, zum Beispiel durch Umpriorisierung und rasche Beschaffung und Auftragsvergabe.
Die europäische Abschreckung müsse sich zudem für einen hybriden Krieg, wie ihn Russland führt, wappnen. Dazu gehöre der Schutz kritischer Infrastruktur, wie etwa Energieinfrastruktur, staatlichen Einrichtungen und Unterseeleitung zu schützen. Außerdem wichtig: Cybersicherheit und Resilienz der Lieferketten, der Schutz der Verteidigungsindustrie, der Weltraumsicherheit und die Resilienz der Gesellschaft.
Zur Smart Power gehört aus Sicht Kiesewetters nicht nur die Verteidigung, sondern auch De-risking und De-coupling von China. Also eine Verminderung der Abhängigkeit von China sowohl in Sachen Lieferketten und Rohstoffen – und mehr Beobachtung der Güter, die weiterhin ausgetauscht werden.
"Wir müssen nicht nur selbst Sicherheitsprovider in Europa werden, sondern auch einen Beitrag zur geopolitischen Abschreckung im Systemkonflikt im Rahmen einer neuen Allianz der regelbasierten Staaten leisten – gerade auch im Bereich Sicherheitskooperation", stellt Kiesewetter klar. Wichtig sei es, dass die Last fair zwischen der EU und den USA verteilt würde.
Klar sei, dass jede neue US-Regierung ihre Prioritäten auf Asien legen würde – auch im Sicherheitsbereich. Europa müsse die US-Wähler:innen deshalb davon überzeugen, meint Kiesewetter, dass die EU weiterhin eine verlässliche Partnerin ist – und dass eine Zusammenarbeit auch für Amerika einen Mehrwert hat.
Deshalb empfiehlt auch Sicherheitsexperte Erik Brown als zweite Säule seiner Strategie – neben der europäischen Aufrüstung – diplomatische Beziehungen zu republikanischen Senatoren, Abgeordneten und anderen Regierungsvertretern aufzubauen.
So wie es nun etwa Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) gemacht hat. Bei ihrer Reise in die USA besuchte sie nicht nur Washington und New York, sondern auch den texanischen Gouverneur Greg Abbott – ein Republikaner.
Diese Beziehungen, meint Brown, könnten Maßnahmen entgegenwirken, die ein wiedergewählter Trump ergreifen könnte – wie eben die Drohung, aus der Nato auszutreten. Das heißt, wenn der Präsident auch die Zustimmung des Kongresses benötigt, könnten einzelne politische Entscheidungsträger:innen eingreifen, um eine Katastrophe zu verhindern. Das ist kein todsicherer Plan, auf den sich die Europäer:innen allein verlassen sollten, aber zumindest ein Hoffnungsschimmer, räumt Brown ein.