
Polen ließ an der Grenze zu Belarus einen gewaltigen Grenzzaun errichten.Bild: IMAGO images / NurPhoto / Dominika Zarzycka
Analyse
Im Białowieża-Urwald an der Grenze zwischen Polen und Belarus sterben Geflüchtete – an Kälte, Hunger, Stacheldraht. Polens Asylpolitik setzt auf Gewalt statt Menschlichkeit. Pushbacks, Strafverfolgung von Helfer:innen und das Schweigen der EU sorgen für eine brutale Entmenschlichung.
10.08.2025, 14:5710.08.2025, 14:57
Vier Jahre sind es nun. Vier Jahre, in denen Polen mit allen Mitteln versucht, Flüchtlinge an der Grenze zu Belarus bei der Einreise in die EU zu stoppen. Tausende Menschen landen in diesen vier Jahren im Białowieża-Urwald. Ein gewaltiges Biotop, das einen spurlos verschluckt und im Unterholz verschwinden lässt.
Die Situation ist festgefahren. Aussicht auf Besserung gibt es nicht, stattdessen verschärft sich die Lage zunehmend. Abschottung und Gewalt sind Teil einer neuen Asylpolitik, deren Härte in den polnischen Wäldern deutlich spürbar ist. Gerechtfertigt über eine Entmenschlichung, die Politiker:innen über Jahre perpetuierten. Einer der zentralen Akteure in diesem Spiel mit Menschenleben: die Regierung in Belarus.
Lukaschenkos perfides Spiel mit Menschenleben
Juli 2021 erklärte der belarussische Präsident Lukaschenko, er werde keine Migrant:innen auf ihrem Weg nach Westen, "ins warme und komfortable Europa" zurückhalten. Beobachter:innen vermuteten dahinter eine Drohung, denn zuvor belegte die EU Belarus mit mehreren Sanktionspaketen. Eine Reaktion auf Lukaschenkos fragwürdigen Wahlsieg 2020 und sein brachiales Vorgehen gegen Proteste von Gesellschaft und Opposition.
Kurz nach Lukaschenkos Ansage nahmen die Grenzübertritte, welche von polnischer Seite als "illegal" eingeordnet werden, stark zu. Lagen sie im August noch bei 3500, waren es im Oktober bereits 17.500, meldet das Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Die meisten stammen aus dem Nahen Osten und Nordafrika.
Polen reagierte rasch, baute einen Zaun an der belarussischen Grenze. Ein fünf Meter hohes und rund 200 kilometerlanges Stahlmonstrum, gespickt mit einem messerscharfen Gebiss aus Nato-Draht. In den vergangenen Jahren verschärfte sich die Lage weiter.
Gewalt als Strategie – Polens neue Asylpolitik
"Es gibt Berichte von Soldaten, die Jagd auf Migranten machen, von paramilitärischen Truppen, die es ihnen gleichtun", sagt Valeria Hänsel, Migrationsforscherin bei der Menschenrechtsorganisation Medico, gegenüber watson. Erwischen die Militärs Flüchtlinge, drohen Prügel bis zu Knochenbrüchen, schreibt auch Human Rights Watch.
Übergeordnetes Ziel: die Flüchtlinge zurückzudrängen – auch mit Gewalt. Die Rede ist von illegalen Pushbacks. Illegal, da sie gegen das Verbot der Kollektivausweisung verstoßen, welches in der europäischen Menschenrechtskonvention festgehalten wird. Gefährlich sind aber nicht nur die Pushbacks, nicht nur die Attacken, sondern auch die Umgebung.

Wovor soll eine Grenzsicherung eigentlich genau schützen?Bild: Imago / ZUMA Press Wire
Überqueren Flüchtlinge den Grenzzaun, landen sie – meist schwer verletzt – im Białowieża-Nationalpark, dem letzten Urwald Europas. Das gesamte Areal misst mehr als 3000 Quadratkilometer. "Viele verirren sich in den Wäldern, verhungern und verdursten; sie ertrinken in Sümpfen; sie werden von wilden Tieren gerissen", sagt Hänsel.
Das Militär stelle zudem irreführende Schilder auf. Ohne Kenntnisse folgt der vollständige Orientierungsverlust. Naht der Winter sind die Menschen schutzlos Kälte und Nässe ausgesetzt. Mindestens 60 Tote hat es bereits gegeben, zudem sind mehr als 300 Vermisstenmeldungen im Umlauf, schreibt die Helsinki Foundation for Human Rights und verweist im Anschluss auf eine wahrscheinlich deutlich höhere Dunkelziffer.
Helfer haben keine Chance
Die gestrandeten Migrant:innen sind offensichtlich auf Hilfe angewiesen. Polen selbst hat diese aber kriminalisiert, setzt auf wild ausgelegtes Recht als Abschreckung – und das während einer humanitären Krise. "Menschen, die ein Recht auf Asyl haben, brauchen Hilfe, um die Grenze zu überqueren. Doch die ist kaum möglich. Nicht bei der Härte, in der sie sanktioniert wird", sagt Hänsel.
So läuft derzeit etwa ein Verfahren gegen eine Gruppe, die einer irakischen Familie und einem Ägypter geholfen hat. Ziel war es, die völlig ausgehungerten Flüchtlinge in die nächste Stadt zu bringen, wie die "Tagesschau" berichtete. Zunächst lag der Vorwurf auf Schleusung, jetzt auf "Unterstützung von illegalen Eingereisten zum eigenen Vorteil". Es drohen bis zu fünf Jahre Haft.
Die rigorose Härte gegen Flüchtlinge steht entgegen der Genfer Flüchtlingskonvention, entgegen dem EU-Recht, entgegen dem Dublin-Abkommen. Zwischen Polen und Belarus bekommen sie kein Asylverfahren. Sie werden systematisch und oft gewaltsam zwischen den Grenzen hin- und hergeschoben.
Dass Helfer:innen nach polnischem Strafgesetzbuch angeklagt werden, bei gleichzeitiger Entrechtung der Flüchtlinge, ist ein erschütternder Beleg für die Rechtsauslegung, um Interessen durchzusetzen. Doch die polnische Praxis steht nicht im luftleeren Raum – sie ist Teil einer europäischen Verschiebung.
Bedingt wird diese durch die Entmenschlichung der Flüchtlinge. Sicherheitsexpert:innen bezeichnen sie längst als "hybride Waffen", also ein Mittel, um Europa zu destabilisieren. Für die EU ein Grund, nicht einzugreifen. "Sie stellt sich entsprechend taub, lässt Polen mit seiner illegalen Pushback-Praxis weitermachen", sagt Hänsel.
Wie Europa wegschaut – und damit mitmacht
Flüchtlinge sind nach dieser Logik keine Individuen mit Rechten, sondern Objekte mit politischer Wirkung. Und die wissen Parteipolitiker:innen für sich zu nutzen. Die rechtsgerichtete PiS-Regierung stürzte sich bis 2023 auf das Thema Migration. Lange Zeit mit Erfolg. Die liberale Tusk-Regierung knüpft hier nahtlos an. Das stößt auf Kritik, aber auch auf Wohlwollen.
Da es bereits Beispiele gab, in denen Machthaber Migrant:innen als Druckmittel missbrauchten, etwa in der Türkei, entwickelten einige EU-Länder Abwehrstrategien. Resultat ist "eine Aushöhlung des Asylrechts", die auch Hänsel anspricht.
In Deutschland führte erst die Ampel-Regierung verstärkte Kontrollen an der Grenze ein, die Merz-Regierung, allen voran Bundesinnenminister Dobrindt, weitete sie aus – mitsamt Zurückweisungen, sofern es vorher keinen Asylantrag gegeben hat.
Nur ist das mit dem Antrag so eine Sache. Normalerweise gibt es ein Recht, diesen im Ankunftsland zu stellen. Dafür ist aber häufig eine Einreise nötig, besonders, wenn Menschen auf der Flucht sind, ergo keine Zeit für ein ellenlanges Antragsverfahren bleibt.
Die neue Normalität: Abschottung statt Asyl
Eine Besserung ist erstmal nicht absehbar. Deutschland, Italien, Griechenland, Ungarn, Polen, in der EU wächst der Widerstand gegen das Asylrecht. Zustände wie an der polnisch-belarussischen Grenze erfahren eine Legitimation, schlicht, indem sie nicht sanktioniert werden.
Flüchtlinge dienen machtpolitischen Interessen. Dass diese "hybriden Waffen" keine Waffen sind, sondern Menschen, interessiert niemanden mehr. Und so geht das Leiden im Białowieża-Nationalpark weiter – vermutlich für die nächsten vier Jahre und weit darüber hinaus.