Palästinenser rufen bei einer Kundgebung im Westjordanland am 11. Oktober zur Unterstützung der Hamas-Bewegung und des palästinensischen Widerstands auf. Bild: imago images / Mamoun Wazwaz
Analyse
14.10.2023, 15:4517.10.2023, 14:29
Der Angriff kam überraschend. Der Schock sitzt noch tief. Mehr als 1000 Menschen ermordet die Terrororganisation Hamas kaltblütig – darunter auch Babys. Hinrichtungen und Folter – die Terroristen starteten vom Gazastreifen aus eine verheerende Attacke gegen Israel.
Während das Ausmaß der Gräueltaten immer mehr ans Licht kommt, feiern Menschen die Aktion der Hamas weltweit auf den Straßen. Ex-Hamas-Chef Khaled Mashaal ruft die arabische Welt zum gemeinsamen Krieg gegen Israel auf. Laut ihm haben Jordanien, Syrien, Libanon und Ägypten eine größere Pflicht, die Palästinenser:innen zu unterstützen. Mit Sorge wird der ansteigende Antisemitismus weltweit beobachtet.
Auf die Hamas-Angriffe reagierten Menschen auch mit Jubel, auch in Europa. Bild: AP / Kirsty Wigglesworth
Auch innerhalb Israels bejubelte man etwa im Westjordanland das Blutbad der Hamas-Terroristen an israelischen und teils ausländischen Zivilist:innen. "Noch am Tag des Terrorangriffs kam es zu Feierlichkeiten im gesamten Westjordanland", sagt Steven Höfner auf watson-Anfrage. Er leitet das Büro vor Ort für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung.
Watson ist jetzt auf Whatsapp
Jetzt auf Whatsapp und Instagram: dein watson-Update! Wir versorgen dich
hier auf Whatsapp mit den watson-Highlights des Tages. Nur einmal pro Tag – kein Spam, kein Blabla, nur sieben Links. Versprochen! Du möchtest lieber auf Instagram informiert werden?
Hier findest du unseren Broadcast-Channel.
Gewalt und Terror: Hamas lockt besonders palästinensische Jugend an
Mit seiner Familie wohnt er in der Stadt Ramallah, in den Palästinensischen Autonomiegebieten im Westjordanland. Dort hielten sie sich während der Hamas-Angriffe auf. Vier Tage später entschieden sie sich, ins benachbarte Jordanien auszureisen.
Auf die Frage, was die Palästinenser über die Hamas-Angriffe in Ramallah denken, betont Höfner: "Kritische Stimmen gegenüber der Hamas lassen sich nur in privaten Gesprächen wahrnehmen. Öffentlich trauen sich viele nicht, ihre Meinung zu äußern, aus Angst vor Repressionen aus dem Lager der Hamas."
Ob die Hamas, mit ihrer jüngsten – sehr brutalen – Aktion, Sympathie auch im Westjordanland unter den Palästinenser:innen gewonnen hat, lässt sich laut Höfner aktuell ohne Umfragewerte nur schwer einschätzen. Aber: In der Vergangenheit habe die Hamas bei kriegerischen Auseinandersetzungen immer an Sympathien in der Bevölkerung gewonnen.
Zahlreiche Menschen besuchen eine Hamas-Kundgebung in Gaza.Bild: imago images / Mohammed Nasser
Dies könnte auch jetzt wieder der Fall sein, meint Höfner. "Insbesondere die palästinensische Jugend spricht sich zunehmend für den proaktiven, gewaltvollen und auch terroristischen Ansatz der Hamas aus", führt er aus. Denn: Die Fatah und Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas wirken vielen dagegen als reaktionär und ohne Vision für die Zukunft.
Was ist die Fatah?
Die Fatah ist eine 1959 gegründete palästinensische Partei. 1967 gewann sie nach der israelischen Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens breite Unterstützung. Anfangs kämpfte auch die Fatah mit Guerillamethoden gegen Israel, doch in den 1980er-Jahren schlug sie diplomatische Wege ein. Diese führten zu den Osloer Verträgen und dem Vorschlag einer Zweistaatenlösung.
Westjordanland: Fatah werde sich wohl zurückhalten
Zum Hintergrund: Die Fatah kontrolliert das Westjordanland, die konkurrierende radikal-sunnitische Hamas den Gazastreifen. Im Gegensatz zur Hamas erkennt die Fatah Israel an und strebt eine Zweistaatenlösung entlang der Grenzen an, die nach dem Sechstagekrieg von 1967 festgelegt wurden. Dies würde den Gazastreifen, das Westjordanland und Ostjerusalem als einen möglichen Staat Palästina definieren.
"Die Hamas wiederum hat den Weg der unumkehrbaren Konfrontation mit Israel gewählt."
Die Ziele und Vorgehensweisen der Hamas und Fatah sind demnach unterschiedlich. Laut Höfner gab es in den vergangenen Jahren innenpolitisch heftige Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern. Der Experte rechnet nicht damit, dass sie sich jetzt angesichts des Krieges in Israel vereinen werden.
Experte geht nicht von einer dritten Intifada aus
"Würde sich die Fatah dem Terror der Hamas nun anschließen, würde sie einerseits die harte Antwort Israels spüren und andererseits innerpalästinensisch nahezu irrelevant werden", sagt Höfner. Die Fatah werde daher eher auf eine Zerstörung der Hamas setzen, als ihr politisch zu folgen. "Die Hamas wiederum hat den Weg der unumkehrbaren Konfrontation mit Israel gewählt", führt er aus. Man könne es auch mit Blick auf die Reaktion Israels als Selbstmordkommando verstehen.
Demnach droht laut ihm auch keine dritte Intifada, vor der andere Expertenstimmen nun warnen. Intifada bezeichnet die palästinensischen Aufstände in den von Israel besetzten Gebieten und steht für "Erhebung" oder "Abschüttelung". Im Nahostkonflikt gab es bisher eine Erste 1987 und eine Zweite Intifada 2000.
"Die Intifadas waren stets von einer gewissen Einheit der palästinensischen Gesellschaft geprägt. Die Methoden der Aufstände wurden dabei häufig untereinander abgeglichen und diskutiert", sagt Höfner. Von einer solchen Einheit sei man in der palästinensischen Politik weit entfernt. Eventuell käme es zu Annäherungen der unterschiedlichen Lager nach dem Ende des Regimes von Abbas. Denn: Dieser ist laut Höfner vorrangig an seinem Machterhalt interessiert und duldet daher keine Wettbewerber.
Abbas schweigt zunächst tagelang nach dem Terror-Angriff auf Israel. Doch dann bricht er sein Schweigen mit wenigen Worten: "Wir lehnen die Praxis, Zivilisten zu töten oder sie zu misshandeln, auf beiden Seiten ab, weil sie gegen Moral, Religion und internationales Recht verstößt." Die Hamas erwähnt er nicht.
Mahmud Abbas, Politiker der Fatah.Bild: Pool AP / Alex Brandon
Wer ist Mahmud Abbas?
Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas ist ein führender Politiker der palästinensischen Fatah-Bewegung. Zudem ist er Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Jüngst sorgte er mit seinen antisemitischen Äußerungen für internationale Empörung.
Die Lage bleibt demnach unübersichtlich. Höfner meint: "Ausschließen kann man derzeit nichts, weil es diese besondere Lage im Nahostkonflikt noch nie gab."
Israel-Krieg nach Hamas-Attacke: Baldiges Ende der Gewalt nicht in Sicht
Die ersten Tage nach der Hamas-Attacke nahm Höfner eine deutliche Anspannung vor Ort wahr. "Niemand weiß, wie die nächsten Tage und Wochen aussehen werden. Lebensmittel werden auf Vorrat gekauft, weil man Blockaden im Westjordanland befürchtet", sagt er. Diese Anspannung vermische sich mit einem Hauch von Normalität, weil Geschäfte und Schulen derzeit wieder ganz normal geöffnet haben.
Währenddessen finden massive Luftangriffe im dicht besiedelten Gazastreifen statt. Bezirke ähneln schon jetzt einer Trümmerwüste. Die humanitäre Lage vor Ort sei "katastrophal", warnt Brian Lander, stellvertretender Leiter für Notfälle des UN-Welternährungsprogramms, gegenüber dem US-Sender CNN.
Bald ist mit einer Bodenoffensive Israels in Gaza zu rechnen. Laut Medienberichten soll diese wohl frühestens am 18. oder 19. Oktober starten. Denn die israelischen Truppen haben das Grenzgebiet noch nicht hundert Prozent unter Kontrolle. Zudem bleibt auch die Lage im Norden des Landes angespannt. Dort kommt es permanent zu Auseinandersetzungen mit der libanesischen Hisbollah.
Eines ist klar: Der brutale Überfall der Terrorgruppe Hamas hat eine Spirale der Gewalt losgelöst – deren Ausmaß derzeit noch nicht abschätzbar ist.
Boris Pistorius (SPD) ist seit Januar 2023 Bundesverteidigungsminister unter Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Er gilt als einer der beliebtesten Politiker Deutschlands.