Gut 64 Millionen wahlberechtigte Türkinnen und Türken im In- und Ausland haben am Sonntag über ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten abgestimmt – und das Ergebnis fällt knapp aus. Keiner der Kandidaten konnte die 50-Prozent-Hürde packen. Damit geht der türkische Wahlkrimi offenbar in die zweite Runde. Sprich: Es gibt eine Stichwahl.
Was sich am Wahlabend abgespielt hat und wie es jetzt weitergeht, fasst watson für dich in sechs Punkten zusammen.
Beim Stand von rund 95 Prozent der ausgezählten Wahlurnen im Inland und rund 37 Prozent im Ausland liege Recep Tayyip Erdoğan bei 49,49 Prozent der Stimmen, sagt der Chef der Wahlbehörde, Ahmet Yener, in Ankara am Montagmorgen gegenüber der Nachrichtenagentur dpa.
Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu kam demnach auf 44,79 Prozent. Beide verfehlten damit die absolute Mehrheit von 50 Prozent und müssen am 28. Mai in eine Stichwahl gehen.
Für Erdoğan offenbar ein Schock. Seine jahrzehntelange Machtposition beginnt zu bröckeln.
Nach 20 Jahren an der Macht muss sich der türkische Präsident Erdoğan voraussichtlich erstmals einer Stichwahl stellen. Seit November 2002 regiert er das Land mit der islamisch-konservativen AKP. Damals versprach Erdoğan, die Türkei zu demokratisieren. Doch er schlug offensichtlich einen anderen Kurs ein.
Expert:innen befürchten, dass das Nato-Land in den nächsten fünf Jahren unter Präsident Erdoğan noch autokratischer werden könnte. Daher gilt die Wahl als richtungsweisend.
Politikwissenschaftler Ismail Küpeli lobt den Mut der Menschen in der Türkei für ihren Kampf für Demokratie und Menschenrechte. An der Universität Köln beschäftigt er sich mit Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus.
Er ist offenbar begeistert, wie sich die Türk:innen trotz "staatlicher Repression und rechter Propaganda" für einen demokratischen Weg entscheiden. Und diesen könnte die Opposition ebnen.
Der 74-jährige Kılıçdaroğlu ist Kandidat für ein breites Bündnis aus sechs Parteien. Der Vorsitzende der Mitte-links-gerichteten, pro-säkularen Republikanischen Volkspartei CHP verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen System sowie zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Auch international wird die Wahl aufmerksam beobachtet. Eine neue Regierung hätte Auswirkungen auf Konflikte in der Region wie etwa den Syrien-Krieg, aber auch auf das Verhältnis zur EU und Deutschland.
Der Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu äußert sich optimistisch, eine mögliche Stichwahl in zwei Wochen zu gewinnen. Sollten die Ergebnisse des ersten Wahlganges eine Stichwahl nötig machen, "werden wir die zweite Runde unbedingt gewinnen", sagt Kılıçdaroğlu vor Journalist:innen. "Der Wille in der Gesellschaft zur Veränderung ist höher als 50 Prozent", zeigt er sich zuversichtlich.
Auf dem weit abgeschlagenen dritten Platz landete Sinan Oğan von der ultranationalistischen Ata-Allianz mit rund 5,3 Prozent. Dem Außenseiter könnte noch eine wichtige Rolle zukommen. Bei der Stichwahl wird wichtig sein, welche Wahlempfehlung er vorher abgibt.
In der Türkei fand auch die Parlamentswahl statt und dort zeichnet sich wohl ein Vorsprung für Erdoğan und seine Verbündeten ab.
Die Wahlbehörde gab das Ergebnis der Parlamentswahl zwar noch nicht bekannt. Es zeichnet sich jedoch ab, dass Erdoğans Regierungsallianz ihre Mehrheit verteidigen konnte. Der Präsident hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 weitreichende Befugnisse, das Parlament mit seinen 600 Abgeordneten ist dagegen geschwächt.
Bei den Wahlen sollen sich offenbar Wahlmanipulationen zugetragen haben. Das behauptet etwa eine Kurdenorganisation. So sei etwa vielerorts gemeldet worden, dass Wahlzettel bereits gestempelt gewesen seien, als sie verteilt wurden, erklärt Civaka Azad vom Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit.
Auch ungültige Zettel wurden demnach verteilt. Zudem wurden laut Azad mehrere Tausend Menschen am Wählen gehindert, indem sie ohne ihr Wissen als Wahlhelfer:in benannt wurden oder weil ihnen kein Stimmzettel ausgehändigt wurden, da ihre Namen angeblich nicht auf den Listen standen.
In der Türkei geht Präsident Erdoğan massiv gegen die kurdische Opposition, wie die Demokratische Partei der Völker (HDP) vor. Auch führt der türkische Präsident einen erbitterten Kampf gegen die kurdischen Kräfte in Nordsyrien. So hat die Polizei laut Azad etwa Stimmen in der mehrheitlich kurdischen Stadt Agirî beschlagnahmt.
Auch zahlreiche Verstöße gegen das in der Türkei geltende 24-stündige "Propagandaverbot" habe es gegeben – insbesondere seitens der Regierungspartei AKP und ihrem Koalitionspartner MHP. Wähler:innen erhielten demnach beispielsweise SMS-Nachrichten von Kandidaten, und vor den Wahllokalen wurden Geschenke oder Werbung verteilt.
Dazu kommt eine hohe Präsenz von Militär und Polizei – insbesondere in mehrheitlich kurdischen Provinzen. Nach Angaben von Wahlbeobachtern soll das zu einer starken Einschüchterung der Gesellschaft beigetragen habe, erklärt Azad.
Bilder und Videos von kleineren gewaltsamen Zusammenstöße in Wahllokalen, meist ausgehend von AKP-Anhängern, wurden demnach im Internet verbreitet.
Auch die Grünen-Politikerin Alev Korun aus Österreich teilt auf Twitter einen Fall von Wahlbetrug. Dazu twittert sie den Tweet des Oppositionspolitikers Oğuz Ka an Salıcı, Mitglied der sozialdemokratischen CHP. Angeblich wurde der Wahlurnenbeamte Fettullah Işıkakdoğan mit kochendem Wasser übergossen und geschlagen, weil er gegen Wahlbetrug Widerstand leistete.
Diese Vorwürfe von Wahlbetrug können nicht unabhängig überprüft werden.
Zusammengefasst seien die sogenannten "Schicksalswahlen" bisher aber deutlich friedlicher abgelaufen als befürchtet, heißt es weiter. Die Stimmung dürfte in den kommenden Tagen dennoch angespannt bleiben, bis das endgültige Wahlergebnis feststeht.
(Mit Material der dpa/afp)