Nach der Explosion des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine werden die Folgen immer sichtbarer: Überflutete Straßen, Häuser und Felder. Menschen fliehen vor den Fluten. Unzählige Fische verenden auf trockenem Boden.
Zehntausende Menschen wurden auf der ukrainischen und der von Russland besetzten Seite des Flusses Dnepr in Sicherheit gebracht. Washington warnt vor "womöglich vielen Toten", die UNO sprach von humanitären Folgen für "Hunderttausende Menschen".
Eines sei Fakt: "Die Zerstörung des Kachowka-Staudammes dürfte einen erheblichen Einfluss auf das Kampfgeschehen in der Cherson-Region haben", sagt Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov von der Freien Universität Berlin auf watson-Anfrage. Doch es bleibt weiter unklar, wer hinter der Sprengung steckt.
Laut Gerasimov bleibt die Lage im Moment "extrem unübersichtlich". Indes löste die Sprengung des Damms auf beiden Seiten der Front wilde Debatten aus: Wer sind die "wahren" Profiteure und wer ist Leidtragender? "Beide Seiten schieben sich die Schuld für die Zerstörung des Staudammes zu und warnen vor massiven Problemen für die eigenen Truppen und Logistik", erklärt der Experte.
Er führt aus:
Russische Verteidigungspositionen, Minenfelder und Sperrvorrichtungen, die monatelang an der Dnepr-Küste aufwendig aufgebaut wurden, seien nun in Folge der Überflutung regelrecht weggeschwemmt. Laut Gerasimov sind mittlerweile Aufnahmen aufgetaucht, die zeigen, wie russische Soldaten brusthoch durch das Wasser ihre Verteidigungslinien verlassen.
"Russische Abwehranlagen an der Dnepr-Ostküste bei Cherson existieren somit de facto nicht mehr", betont Gerasimov. Doch auch die ukrainische Seite erleidet schwere Verluste.
Gerasimov betont hier die überfluteten Inseln im Dnepr-Flussbett, die von Ukrainer:innen gehalten werden. "Zahlreiche Aufnahmen kursieren, wie ukrainische Soldaten, von Fluten überrascht, hastig die Inseln verlassen und auf Schnellbooten in Richtung Westufer abziehen – alles unter russischem Artilleriefeuer", erklärt der Konfliktbeobachter.
Vorteilhafte Positionen auf den Inseln, über die die Ukraine ihre Landungsoperationen an der Cherson-Ostküste planten, seien damit auch weg. Gerasimov hebt hervor: "Die lang erwartete ukrainische Gegenoffensive hätte somit einen ihrer wichtigsten Frontabschnitte verloren."
Zusammengefasst: Die Lage und die Nutznießenden der Zerstörung des Staudammes sind laut des Experten somit mehr als uneindeutig. Er sagt:
Gerasimov stellt klar: Wer auch immer den Staudamm zerstört hat, müsse die Überflutung nicht nur gegnerischer, sondern vor allem auch eigener Positionen hingenommen haben. "Dies macht die Lage umso unübersichtlicher und im Moment schwer zu bewerten", führt er aus. Doch die Folgen sind offensichtlich gravierend – für jede Kriegspartei.
"Dieses neue Verbrechen in der Südukraine kommt dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe nahe", meint Andreas Umland auf watson-Anfrage. Der Analyst vom "Stockholm Centre for Eastern European Studies" führt aus:
Laut ihm hat der ehemalige ukrainische Umweltminister und Ökologieexperte Ostap Semerak bereits am 6. Juni 2023 auf die multiplen Folgen des Dammbruchs hingewiesen. Aber schon im November 2022 stand der Kachowka-Staudamm im Fokus, als die russische Armee aus Cherson abzog.
Damals hieß es: Russische Streitkräfte sollen den Staudamm vermint haben, um mit einer Flutwelle eine ukrainische Gegenoffensive in Cherson zu stoppen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj betont allerdings, der Vorfall habe keine Auswirkungen auf die Gegenoffensive seines Landes zum Zurückdrängen der russischen Armee.
Allerdings sind die Folgen für Mensch, Tier und Natur unübersehbar. Das zeigen etwa die Aufnahmen von US-Reporter Matthew Luxmoore aus Cherson, die er auf Twitter teilt.
"Zum einen werden Ortschaften, große landwirtschaftliche Nutzflächen und etliche Naturschutzgebiete überschwemmt", erklärt Umland. Zum anderen sei mit dem Ablassen des Damms die Wasserversorgung vieler Ortschaften einschließlich einiger Städte wie Berdjansk sowie der Krim unterbrochen.
Mittelfristig ist auch die Wasserversorgung des Kühlsystems des größten Atomkraftwerks Europas in Saporischschja in Frage gestellt.
International wächst die Sorge, dass die Kühlung des Atomkraftwerks Saporischschja durch den Dammbruch in Gefahr sein könnte. IAEA-Chef Grossi warnt, in "ein paar Tagen" könne der Pegel des Stausees so niedrig sein, dass das Wasser nicht mehr zum Kraftwerk gepumpt werden könnte.
Der von Russland eingesetzte Leiter des AKW, Juri Tschernitschuk, erklärt im Onlinedienst Telegram hingegen, "der Wasserstand im Kühlbecken hat sich nicht verändert". Die Folgen für die Agrarwirtschaft hingegen sind bereits jetzt ersichtlich.
Das ukrainische Agrarministerium rechnet nach ersten Schätzungen mit der Überschwemmung von etwa 10.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche am nördlichen Ufer des Dnepr in der Region Cherson. Am südlichen Ufer, im russisch besetzten Gebiet, werde ein Vielfaches dieser Fläche überflutet, teilt das Ministerium auf seiner Webseite mit.
"Darüber hinaus wird die von Menschen verursachte Katastrophe die Wasserversorgung von 31 Feldbewässerungssystemen in den Regionen Dnipropetrowsk, Cherson und Saporischschja zum Erliegen bringen", so das Ministerium. "Die Zerstörung des Wasserkraftwerks Kachowka wird dazu führen, dass sich die Felder im Süden der Ukraine bereits im nächsten Jahr in Wüsten verwandeln könnten", heißt es weiter.
Auch die Trinkwasserversorgung in besiedelten Gebieten sei betroffen. Zudem erwartet das Agrarministerium nach eigenen Angaben negative Folgen für die Fischerei. Osteuropaexperte Sergej Sumlenny teilt ein Video auf Twitter, das ein Meer an gestrandeten Fischen zeigt.
Konfliktbeobachter Gerasimov ist sich sicher: Was den weiteren Kriegsverlauf angeht, dürfte vieles davon abhängen, wie schnell die Wassermassen nachlassen.
"Sollte die Überflutung eine Art Dauerzustand annehmen, würden eher die Russen profitieren, weil ukrainische Landungsversuche über den Fluss unter den Umständen schwer vorstellbar sind", meint er. Sinken die Wassermassen hingegen schnell, dürften dagegen die Russen den Kürzeren ziehen, prognostiziert Gerasimov.
Verteidigungslinien und Minenfelder seien innerhalb weniger Tage weggeschwemmt worden, die Logistik kaum noch aufrechtzuerhalten, und zugleich habe der Fluss seinen normalen Zustand erreicht. Einer ukrainischen Landungsoperation an dem Ostufer würde nichts mehr im Wege stehen, sagt der Experte.
(Mit Material der dpa/AFP)