Der russische Präsident Wladimir Putin gerät zunehmend unter Druck.Bild: www.imago-images.de / imago images
Analyse
Der Blitzsieg der Ukrainer wird zur Schande des russischen Präsidenten.
Philipp Löpfe / watson.ch
Wladimir Putin liebt die Macho-Pose. Ob nackter Oberkörper oder einstudierte James-Bond-Imitation – der russische Präsident lässt nichts aus. Auch politisch kennt sein Größenwahn keine Grenzen. Er vergleicht sich deshalb gerne mit Peter dem Großen, dem legendäre Zaren, der im 18. Jahrhundert das russische Imperium gegründet hat.
Fiona Hill war lange Sicherheitsberaterin im Weißen Haus und gilt als ausgewiesene Russland-Kennerin. In der jüngsten Ausgabe von "Foreign Affairs" fasst sie Putins geopolitische Ambitionen wie folgt zusammen:
"Putin will eine Welt, in der Russland einer slawischen Union vorsteht, die sich zusammensetzt aus Belarus, Russland, der Ukraine und Teile von Kasachstan – und in der alle anderen ehemaligen Teilstaaten der Sowjetunion die russische Vorherrschaft akzeptieren. Auch der Westen und der Süden sollen Russlands dominante Rolle in Eurasien anerkennen."
2009 zeigte sich Wladimir Putin oberkörperfrei – solche Macho-Posen gehören zu den Markenzeichen des Kreml-Chefs.Bild: imago stock&people / imago images
Die hochfliegenden geopolitischen Pläne Putins haben in den vergangenen Tagen einen argen Dämpfer erfahren. Mit einem erfolgreichen Blitzangriff hat die ukrainische Armee nicht nur Land zurückerobert – sie hat dabei die russischen Soldaten vorgeführt und gedemütigt.
"Sie (die russischen Soldaten) haben ihre Panzer verlassen und ihre Waffen liegen gelassen, sie stahlen selbst Velos, um zu fliehen", schildert in der "Financial Times" Petro Kuzyk, ein Kommandant der ukrainischen Armee, das Geschehen der vergangenen Tage. "Dass die russische Armee auf diese Weise zusammengebrochen ist, machte unseren Job leichter. Sie flohen wie Sprinter an den Olympischen Spielen."
Es ist kein Zufall, dass die Soldaten der Ukraine ihren bisher bedeutendsten Erfolg erzielten. "Unsere Gegenoffensive war minutiös vorbereitet", erklärt Kuzyk weiter. Die Oberkommandierenden der russischen Armee wurden wie Anfänger in eine Falle gelockt, indem die Ukrainer eine Offensive bei Cherson vortäuschten.
Russlands Soldaten demoralisiert
Die russischen Truppen wurden durch Dauerbeschuss zermürbt. Dabei zeigte sich einmal mehr, dass die Moral der russischen Soldaten sehr bescheiden ist. "Sobald sie dank der Artillerie keine Übermacht mehr haben, hören sie nicht nur auf zu kämpfen, sie rennen davon", erklärt Serhiy Kuzan, ein ukrainischer Militärberater. "Das war das Geheimnis unserer Operation. Die russische Armee ist ein aufgeblasener Ballon."
Dieser Ballon ist im Donbass geplatzt und hat der ukrainischen Armee ein Luxusproblem beschert. Sie hat innerhalb weniger Tage mehr Gebiete zurückerobert als die Russen in mühseligen Kämpfen während Monaten errungen haben. Dieses Gebiet zu verteidigen, wird allerdings keine leichte Aufgabe sein. Olenskii Reznikow, der ukrainische Verteidigungsminister, erklärt gegenüber der "Financial Times": "Natürlich müssen wir auf der Hut sein, aber dieser Krieg verlangt dies von uns seit Jahren."
Siegreiche Truppen der Ukraine im Donbass.Bild: AP / Leo Correa
Der Erfolg der ukrainischen Armee ist nicht nur ein gewaltiger Moralschub für die Soldaten und die Bevölkerung. Er könnte auch dazu führen, dass der Westen seine Waffenlieferungen wieder intensivieren wird. Der Beweis, dass die Russen alles andere als unbesiegbar sind, ist damit endgültig erbracht und die oft wiederholte Behauptung von Präsident Wolodymyr Selenskyj, seine Soldaten würden sämtliche besetze Gebiete befreien, mit Fakten belegt.
Deshalb erklärt Gabrielius Landsbergis, der Außenminister von Litauen: "Es besteht nun kein Zweifel mehr, dass die Ukrainer die Russen schon in den ersten Kriegstagen vertrieben hätten, hätten sie über die notwendigen Waffen verfügt."
Der Kreml versucht, die blamable Niederlage nach Kräften herunterzuspielen. Zwar können selbst die besten Kreml-Propagandisten den Rückzug der russischen Truppen nicht verleugnen, aber sie versuchen zumindest, ihn zu verniedlichen. Es handle sich bei diesem Rückzug um eine strategische Neugruppierung, lautet die offizielle Version der Ereignisse im Donbass.
Wladimir Putin nicht mehr unverwundbar
Wladimir Putin übt sich derweil in blasierter Abgehobenheit. Als ob nichts geschehen wäre, weihte er am Wochenende in Moskau ein Riesenrad ein und scherzte demonstrativ mit ein paar Soldaten. Doch selbst der russische Präsident scheint nicht mehr unverwundbar zu sein.
So erklärt sein ehemaliger Redenschreiber Abbas Gallyamow gegenüber der "New York Times": "Stärke ist Putins einzige Legitimität, und sollte sich zeigen, dass Putin nicht mehr stark ist, dann wird seine Legitimität sehr rasch gegen null sinken."
Lässt sich nicht unterkriegen: Präsident Wolodymyr Selenskyj.Bild: Ukrainian Presidential Press Off / Uncredited
Wohl deshalb eifert Putin auch einem anderen legendären russischen Zaren nach, Iwan dem Schrecklichen. Erneut lässt er – militärisch sinnlos – zivile Einrichtungen mit Raketen beschießen. Die Bevölkerung der Ukraine lässt sich davon nicht beeindrucken. Präsident Selenskyj lässt Putin über den Nachrichtenkanal Telegram ausrichten:
"Glaubst du immer noch, Ukrainer und Russen seien ein Volk? Glaubst du immer noch, du könntest uns Angst machen und uns brechen? Wir werden bald wieder mit Gas, Licht und Nahrung sein – aber ohne dich."
Schon seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat die Diskussion um die Wehrpflicht wieder Fahrt aufgenommen. Die Ampel änderte während ihrer Regierungszeit nichts am aktuellen System. Durch die Neuwahlen könnten aber bald schon wieder junge Menschen verpflichtet werden.