Die Lage für queere Iraner:innen ist noch einmal belanstender als für andere Regimegegner:innen. Bei Solidaritätskundgebungen von Iraner:innen im Exil sind auch queere Protestedierende dabei.Bild: IMAGO / NurPhoto
Die Stimme
25.10.2022, 20:0125.10.2022, 20:03
watson-Redaktion und Azin Sadati-Schmutzer
Triggerwarnung:
Im folgenden Text geht es um Gewalt und teils auch sexuelle Gewalt und Suizid. Die Inhalte können verstörend und/oder retraumatisierend sein.
Für queere Menschen ist das Leben im Iran sowieso schon mit Diskriminierung verbunden. Wenn sie allerdings gegen das Regime demonstrieren, sind sie mehrfach bedroht: demonstrieren heißt, sich der Gefahr auszusetzen, verhaftet zu werden, verletzt oder gar getötet zu werden.
Trotzdem gehen auch Queere auf Irans Straßen: gegen das Regime, das ihnen ihre Existenz abspricht. Einige von ihnen haben mit watson über ihre Erfahrungen gesprochen.
Mohammad wurde bei früheren Protesten verhaftet
Mohammad hatte bei Protesten im November 2018 teilgenommen, sagt er gegenüber watson. Grund waren damals vor allem die hohen Lebenshaltungskosten, die einem großen Teil der Gesellschaft das Überleben fast unmöglich machte. An der Erhöhung der Benzinpreise entzündete sich der Protest. Bei einer Demonstration wurde er festgenommen. Mohammad heißt eigentlich anders.
"Ich habe oft an Auswanderung gedacht. Und ich habe oft an Selbstmord gedacht."
"Ich bin ein Profisportler und arbeite von acht Uhr morgens, manchmal bis Mitternacht. Trotzdem kann ich mir keine eigene Wohnung leisten. Für jemanden mit meiner Sexualität ist es sehr schwierig, meinen Partner mit zu meinen Eltern zu nehmen – ich stehe unter großem Druck. Das Leben ist für mich wie eine Folter, die sich jeden Tag wiederholt. Ich habe oft an Auswanderung gedacht. Und ich habe oft an Selbstmord gedacht", erzählt der junge Mann.
Trotzdem ging er auch vier Jahre später wieder auf die Straße. Die repressive und brutale Art, mit der das Regime auf den Protest reagierte, ließ ihn nicht kalt.
"Am ersten Tag kam der Geist, ein Krieger zu sein, zu mir zurück. Aber am nächsten Tag schlugen sie mit einem Schlagstock auf meine Hand – die ist davon sehr schwer angeschwollen. Ich demonstriere trotzdem weiter. Ich hoffe, dieses Mal werde ich entweder auf der Straße sterben oder der Iran wird frei sein."
Sepideh (33) wünscht sich Hilfe aus dem Ausland
"Ich habe solche Angst vor brutaler Gewalt", sagt die 33-jährige Sepideh gegenüber watson: "Jede Art von Gewalt: verbal, physisch, mental." Ihren richtigen Namen behält sie für sich. 2018 ging auch sie auf die Straßen. Doch das Trauma, das sie damals davongetragen hat, sitzt tief: Sogenannte Freiwilligen-Milizionäre (Bassidschi) hatten die lesbische Frau ihren Aussagen zufolge sexuell missbraucht.
Revolutionsgardisten haben mit Schlagstöcken auf sie eingeschlagen und die Polizei habe Tränengas gegen sie eingesetzt. Dieses Mal meidet sie Demonstrationen: "Weil ich während der Proteste im November 2018 fast verhaftet worden wäre und ich wirklich Angst vor diesen Wilden habe. Wenn ich sehe, was sie jungen Menschen antun, wenn sie sie verhaften."
"Ich habe mehrere Droh-SMS erhalten, warum ich am Ort der Demonstration anwesend war."
Da sie nicht an Demonstration teilnimmt, versucht sie Freund:innen und ihr Umfeld zum Streiken zu überzeugen: "Ich sende Nachrichten und Ankündigungen. Sowie Sicherheitshinweise und medizinische Hinweise an meine Freunde, die zu Demonstrationen gehen."
Die Menschen müssten sich gegenseitig helfen. "Die Krankenhäuser sind mit Sicherheitskräften überfüllt, um die Verwundeten im Krankenhaus zu verhaften und ins Gefängnis zu bringen." Überwachung, Kontrolle und Drohungen sind Mittel, die das Regime einsetzt, um Gegner:innen einzuschüchtern. "Ich habe mehrere Droh-SMS erhalten, warum ich am Ort der Demonstration anwesend war."
Das Leben im Iran belastet sie dermaßen, dass sie vom Nervenzusammenbruch berichtet, den sie und viele anderen erlebten. "Diese Menge an Schmerz und Leid des iranischen Volkes, dieser Toten, dieser gefolterten Menschen, hat eine große Qual für mich geschaffen, die ich weder im Schlaf noch im Wachzustand loswerden kann."
Einen Ausweg sieht sie nur mit Unterstützung aus dem Ausland. "Wir brauchen die Hilfe aus dem Ausland: wie die Ausweisung der Botschafter des Regimes. Diese Schurken kamen mithilfe des Westens ans Werk. Und jetzt gibt es keine andere Wahl, als erneut zu intervenieren und diejenigen zu entfernen, die Verbrechen begehen – die sie vom Iran aus in den Irak, nach Syrien und in die Ukraine tragen."
Mehdi (38) ist entschlossen, dieses Regime zu stürzen
Mit Tränengas, das seit vielen Jahren fester Bestandteil bei Demonstrationen ist, versuche die Polizei die Menschenmassen auseinander zu treiben, erzählt Mehdi. Der 38-Jährige, der eigentlich anders heißt, beschreibt watson gegenüber, wie Mobs von Motorradfahrern auf die Demonstrierenden zufahren und mit Schlagstöcken auf Rücken und Kopf schlagen. "Sie versuchen, uns aufzuhalten, aber wir machen auf jede erdenkliche Weise weiter."
Er sei auf offener Straße von Beamten bedroht, gefoltert und vergewaltigt worden. Durch SMS und Telefonanrufe drohe das Regime mit Verhaftung. Auch andere erführen Bedrohung und Gewalt: Schläge mit Autoketten, mit Schlagstöcken, Einsatz von Pfefferspray, von Tränengas, von Schrotflinten und Kriegsgeschosse.
Und: Androhung sexualisierter Gewalt. Die Protestierenden helfen sich laut Mehdi gegenseitig aus – bei ernsteren Wunden und Verletzungen durch befreundete Ärzt:innen und Krankenschwestern.
"Sie sind blutrünstig. Für die gibt es keine Grenze zum Töten und Vergewaltigen."
"Das tägliche Leben in der Islamischen Republik ist eine Erfahrung von Gewalt. Aber ich denke, das Ausmaß an Gewalt wird aus den Statistiken und durch die Videos – der auf den Straßen und in den Gefängnissen Getöteten – deutlich." Vorsichtsmaßnahmen, um der Gewalt von Polizei oder Milizen entgegenzuwirken, gebe es keine. "Sie sind blutrünstig. Für die gibt es keine Grenze zum Töten und Vergewaltigen."
Die beste Vorsorge sei die gegenseitige Unterstützung, die sich Demonstrant:innen geben können. Mehdi beschreibt es so: "Die Stärkeren stehen in den ersten Reihen, sobald die jemanden festnehmen, versuchen wir die Polizei anzugreifen und die festgenommene Person freizukriegen."
Der 38-Jährige hat Hoffnung, dass er ein anderes System im Iran erleben wird: "Diese Demonstration ist eine Fortsetzung der Aufstände, die seit mehr als 30 Jahren von vier Generationen im Iran fortgesetzt werden, aber dieses Mal ist es anders. Unsere Erfahrung hat zugenommen und wir sind entschlossener, dieses Regime zu stürzen."
Niousha (39) übermittelt Neuigkeiten ins Ausland
Auch Niousha hat trotz ihrer 39 Jahre noch nie ein anderes Regime als das der Islamischen Republik erlebt. Sie wünscht sich Freiheit für ihr Land. Dafür nimmt sie Beleidigungen, Prügel und die Gefahr verhaftet zu werden in Kauf. "Wir machen weiter", sagt sie gegenüber watson.
Manchmal werde auch sie auf der Straße angehalten. Sie wurde schikaniert und bedroht – Freund:innen von ihr wurden auch schon festgenommen und haben Folter erfahren – durch Polizisten, Bassidsch-Milizen und die Revolutionsgarden. Mit Paintball-Geschossen beschießen sie Demonstrierende, um sie später zu identifizieren und festzunehmen.
Zur Solidaritätskundgebung in Berlin sind laut Polizei 80.000 Menschen gekommen. Auch Queere protestierten.Bild: IMAGO / Mehrdad Samak-Abedi
"Wir versuchen, zusammen zu sein und nicht getrennt zu werden. Wir helfen der verhafteten Person bei der Flucht, wir bieten den Familien der Gefangenen so viel emotionale und finanzielle Unterstützung wie möglich. Wir übermitteln die Neuigkeiten zur Veröffentlichung an unsere Freunde außerhalb des Iran."
Über soziale Medien verabreden sich die Gleichgesinnten. Außerdem seien die Protestierenden vorsichtig und achteten aufeinander: "Den Menschen nicht vertrauen, die versuchen, die Form der Demonstration zu verändern und sie an abgelegene Orte zu ziehen. Den Unterdrückungskräften nicht erlauben, sich der Demonstration zu nähern. Notfalls fliehen und neu formieren. Und: keine Mobiltelefone zur Demonstration mitnehmen."