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Die andere Perspektive

Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Wie könnte es weitergehen – vier Blickwinkel

HANDOUT - 24.02.2023, Ukraine, Kiew: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, nimmt an einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Ukraine-Kriegs teil. Die russische Armee hatte die Ukraine am 24.0 ...
Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine überfallen – wie wird der Krieg weitergehen?Bild: Ukrainian Presidential Press Off / Uncredited
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Vier Blickwinkel: Wie könnte der Krieg in der Ukraine weitergehen?

24.02.2023, 18:3224.02.2023, 18:35
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Genau ein Jahr ist der russische Überfall auf die Ukraine nun her. Ein für die Ukraine akzeptables Ende – ohne Teile des Territoriums und damit der Souveränität an Russland abzugeben – ist bislang nicht in Sicht. Wie könnte es weitergehen?

Diese Frage hat watson vier Menschen gestellt, die mit dem Krieg zu tun haben: Yuliia, die für NGOs in der Ukraine arbeitet, Militärexperte Ralph Thiele, Marynka, freiwillige Helferin und Dmitry, der nicht gegen Ukrainer:innen kämpfen wollte und aus Russland geflohen ist.

Die Übersetzerin

Watson hat Yuliia das erste Mal im Mai in Dnipro gesehen. Sie arbeitete als Übersetzerin für Verhaltens-, Risikobewertungs- und Erste-Hilfe-Trainings. Immer wieder kreuzten sich die Wege. Zuletzt traf watson sie im Donbass an. Die Ex-Journalistin kommt aus der heute besetzten Stadt Luhansk, floh aber vor acht Jahren. Seit Mai arbeitet sie für Nichtregierungsorganisationen – darunter Global Response Management, Team Rubicon, Cadus und Vostok SOS.

Yuliia arbeitet seit Mai als Übersetzerin für ausländische Hilfsorganisationen im Osten der Ukraine.
Yuliia arbeitet seit Mai als Übersetzerin für ausländische Hilfsorganisationen im Osten der Ukraine.Bild: Privat

"Die nächsten Wochen werden schwierig und vielleicht entscheidend sein. Für uns ist aber jede Woche seit dem 24. Februar 2022 schwierig und entscheidend.

Ich gehe davon aus, dass sich die Feindseligkeiten in den kommenden Monaten verschärfen.

Die ukrainische Armee will unsere Gebiete zurückerobern. Die russische Führung will trotz aller Verluste und ausbleibenden Erfolge die Realität nicht akzeptieren. Sie will ihre Truppen nicht zurückziehen und somit das Leben ihrer Leute retten – ihre Soldaten sterben in diesem Krieg sinnlos.

Die Raketenangriffe auf friedliche Städte mögen zunehmen. Aber die Ukrainer haben gelernt, unter schwierigen Bedingungen zu überleben, wenn es über einen längeren Zeitraum keinen Strom, keine Wasserversorgung oder andere notwendige Ressourcen gibt.

Das ukrainische Volk ist geeint und wird definitiv nicht nachgeben. Denn dann würden wir nicht nur unsere Staatsbürgerschaft und unseren Pass – sondern unsere gesamte Identität verlieren. Und das Recht, unseren eigenen Weg zu wählen.

24.02.2023, Ukraine, Kiew: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht bei einer Militärparade vor der Sophienkathedrale zu den Soldaten. Die russische Armee hatte die Ukraine am 24.02.2022 üb ...
Die Ukrainer:innen stehen eng zusammen – auch am Jahrestag des Krieges.Bild: dpa / Kay Nietfeld

Ich glaube nicht, dass Bachmut fallen wird. Aber die russische Armee versucht immer noch, den ganzen Osten zu erobern – obwohl sie nicht sehr erfolgreich ist. Der Osten bleibt also das Gebiet, in dem die humanitären Helfer am meisten gebraucht werden.

Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die russische Führung ihre nuklearen Drohungen wahr macht. Das würde nichts nützen.

Wir alle hoffen, dass der Tag des Sieges noch in diesem Jahr kommen wird. Die ukrainischen Gebiete werden befreit und zurückgegeben. Die ukrainische Führung wird auf Sicherheitsgarantien und Friedensabkommen zum Nutzen der gesamten zivilisierten Welt – nicht nur der Ukraine – bestehen.

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Unser Land wird im Falle einer Niederlage nicht das letzte sein. Russland wird weiter Richtung Westen ziehen.

Aber klar ist auch: Nach dem Tag des Sieges werden wir viele Aufgaben zu erledigen haben – Wiederaufbau der zerstörten Städte, Wiederherstellung des normalen Lebens, Erhöhung unserer Sicherheit, medizinische und psychologische Behandlung der traumatisierten Menschen ..."

Der Militärexperte

Ralph Thiele ist Oberst a.D. und Diplom-Kaufmann. Nach seiner militärischen Karriere entschied sich Thiele für das zivile Leben und ist heute unter anderem Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft, einem Netzwerk aus Mitgliedern aus Ministerien und Ämtern, Stiftungen und Universitäten, Streitkräften, Medien und Unternehmen. Während seiner militäri­schen Laufbahn gehörte er etwa zum Planungsstab des Verteidi­gungsministers und zum Private Office des NATO-Oberbefehlshabers.

Der Sicherheitsexperte Ralph Thiele.
Der Sicherheitsexperte Ralph Thiele.Bild: Privat

"Die Zukunft ist schwer vorherzusehen. Es gibt immer eine Reihe an Möglichkeiten. Da gibt es auf der linken Seite eine Welt ohne Menschen. Das ist der Grund, warum die Leute vor nuklearer Eskalation warnen. Das kann außer Kontrolle geraten. Im Krieg besteht immer die Frage, kann man die Eskalationsspirale bändigen? Auf der rechten Seite gibt es die prosperierende Ukraine. Der Sieg der Freiheit.

Die Wahrheit liegt vermutlich zwischen diesen beiden Varianten.

Wenn man es sich momentan anschaut, ist die Ukraine zu 20 Prozent besetzt. Wir sehen einen Abnutzungskrieg und auf der ukrainischen Seite auch einen Mangel an Waffen, Munition und Menschen. Vermutlich wird es weiter eskalieren.

Die US-amerikanische Außenpolitikerin Victoria Nuland steuert seit über zehn Jahren das amerikanische Engagement in der Ukraine. Und sie hält ukrainische Angriffe auf die Krim für eine legitime Zielsetzung. Washington würde das also vermutlich unterstützen.

U.S. Under Secretary of State for Political Affairs Victoria Nuland leaves after a press conference in Colombo, Sri Lanka, Wednesday, Feb. 1, 2023. China has not done enough to meet International Mone ...
Die US-Außenpolitikerin Victoria Nuland steuert das amerikanische Engagement in der Ukraine.Bild: AP / Eranga Jayawardena

Und das ist auch das, was wir wahrscheinlich in der Zukunft sehen werden: ein weiterer Abnutzungskrieg an der Frontlinie und sporadische ukrainische Angriffe in Richtung Krim.

Auch das Ende des Krieges könnte unterschiedlich ausgehen. Im Grunde wünsche ich mir einen Waffenstillstand, der in einen gesicherten Frieden führt. Hierbei könnte etwa China eine Schlüsselrolle spielen. Es gibt zunehmend diplomatische Aktivitäten, die versuchen, in diese Richtung zu steuern. Das wird allerdings ein schwieriger Weg werden.

Das Wichtigste ist, die Ukraine zu unterstützen, soweit es geht, ohne eine militärische Eskalation zu riskieren und auch wieder eigene Stärke zurückgewinnen, sprich, die Nato zu stärken. Zudem muss ein Verhandlungspaket geschürt werden, das China mit einbindet, damit es Erfolg hat."

Die gläubige Helferin

Watson traf Marynka im Mai in Charkiw. Damals half sie einer Gruppe aus kirchlichen Freiwilligen, Essen in den umkämpften Norden der Stadt Charkiw zu bringen. Marynka ist 28 Jahre alt, lebte in Charkiw. In genau dem nördlichen Stadtteil Saltiwka, den sie später auch belieferte. Demselben Stadtteil, in dem viele Häuser zerstört wurden.

Marynka belieferte in Charkiw die umkämpften Gebiete mit Essenspaketen.
Marynka belieferte in Charkiw die umkämpften Gebiete mit Essenspaketen.Bild: Privat

"Das Jahr ist sehr schnell vergangen. Alles, was ich aus meinem Leben vor dem Krieg habe, ist ein kleiner Koffer, ein Rucksack mit Sachen und meine Dinosauriersammlung. Wie sich herausstellte, ist das genug zum Leben. Meine Meinung über den Krieg: Ich glaube, dass die aktive Phase des Krieges im März enden sollte. Und dass die Ukraine bis Ende des Jahres alle Gebiete, Donezk, Saporischschja, Luhansk sowie die Krim zurückerobern wird.

Es ist schwer zu sagen, was sich genau ändern wird, aber ich habe Zuversicht, dass es genau so sein wird. Wenn man sich die Geschichte anschaut, stellt man fest: Jeder Krieg ist irgendwann zu Ende gegangen. Und ich glaube sehr fest daran, dass der Krieg in meinem Land sehr bald zu Ende sein wird.

Viele meiner Freunde und Verwandten befinden sich jetzt im Krieg. Ich habe die Folgen des Krieges, die Zerstörung und die zerstörten Leben, mit eigenen Augen gesehen. Aber Russland wird meinen Staat in vollem Umfang entschädigen.

Warum genau glaube ich das?

Wenn man Menschen aus der Ukraine kennt, unterscheiden sie sich von anderen Menschen: Glaube, Hoffnung, Einigkeit. Ich habe Glauben. Und das lässt mich sicher sein, dass es bald so weit sein wird."

Der geflohene Russe

Dmitry will keine Ukrainer:innen töten. Vor der ersten Teilmobilmachung in Russland ist er über Zentralasien in die Türkei geflohen. Über seine Flucht sagt er zwar, sie sei reibungsloser verlaufen als die seiner Freund:innen. Allerdings habe seine Psyche seit September massiv gelitten. Dmitry ist 26 Jahre alt und arbeitet zurzeit als Übersetzer. Er und sein Partner wollen bald nach Berlin ziehen.

Symbolbild – Dmitry möchte aus Sicherheitsgründen nicht erkannt werden.
Symbolbild – Dmitry möchte aus Sicherheitsgründen nicht erkannt werden.Bild: Pexels / Deklanşör

"Ich bin von Natur aus ein ängstlicher Mensch, und das letzte Jahr hat mir nichts als Angst und ein Gefühl endloser Bestürzung beschert.

Ich bin kein Experte für Krieg, Politik und Außenbeziehungen, daher habe ich keine Ahnung, wie lange dieser sinnlose Krieg noch andauern wird. Ich möchte glauben, dass er bald zu Ende sein wird, oder ich hoffe es zumindest.

Unterstützt habe ich den Krieg nie – und das hat mich um meine Heimat, mein Land, meine nationale Identität und meine Freunde gebracht. Ich verbinde mich nicht mit diesem Land, und ich will schon gar nicht zurück dorthin. Mein ehemaliges Heimatland hat mir und der Welt genug Schaden zugefügt.

Es gibt ein Sprichwort, das besagt, dass jeder Krieg früher oder später mit einem Friedensvertrag endet. Das mag stimmen, und ich vermute, dass dieser Krieg so enden wird. Ich glaube nicht, dass Russland gewinnt. Ich wünsche mir nur, dass die unschuldigen Menschen in der Ukraine endlich Frieden und Ruhe finden.

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Zig-Tausende Menschen sind in dem Angriffskrieg bisher gestorben.Bild: dpa / Kay Nietfeld

Ich möchte nicht endlos über das Schicksal der Ukrainer schwadronieren, denn als Russe habe ich nicht das Recht, darüber zu diskutieren. Ich möchte nur sagen, dass es mir sehr, sehr leid tut.

Es gibt ein berühmtes russisches Lied von der Sängerin Monetochka, es heißt ‚Russian Ark‘. Darin ist eine Zeile, die lautet: ‚Die zerbrochene Arche taucht aus der Tiefe auf. Und wir werden ewig leben, so werden wir segeln.‘ Das deckt sich mit meinen Gefühlen zu all dem – egal, was passieren wird, wir werden leben und mit den Konsequenzen umgehen.

Es hat keinen Sinn, über ‚hätte‘ und ‚sollte‘ nachzudenken, aber ich würde gerne zurückspulen und all das Leid, das dieser Krieg über alle gebracht hat, löschen."

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