Wladimir Putin bei seiner Neujahrsansprache vor angeblichen Soldatinnen und Soldaten.Bild: Pool Sputnik Kremlin / Mikhail Klimentyev
Analyse
Nach einem Jahr Krieg steht Wladimir Putin nicht als strahlender Sieger da. Sondern als Dilettant und Versager. Ein Rückblick mit persönlicher Einfärbung.
Peter Blunschi / watson.ch
Der Mensch neigt dazu, die Welt durch eine rosa Brille zu betrachten. Man fokussiert auf das vermeintlich Positive und verdrängt weniger angenehme, aber realistischere Dinge. So war es auch vor einem Jahr. Viele klammerten sich an die Hoffnung, Wladimir Putin wolle die Ukraine und den Westen mit seinem Truppenaufmarsch nur einschüchtern.
Einen Einmarsch und damit die Rückkehr des Angriffskriegs nach Europa, ein vermeintlich verscheuchtes Gespenst des 20. Jahrhunderts, konnte oder wollte man sich nicht vorstellen. So erging es vielen in der Politik und dem Autor dieser Zeilen. Man klammerte sich an die Hoffnung, die Friedensbemühungen würden wie in anderen Fällen Erfolg haben.
Neu: dein Watson-Update
Jetzt nur auf Instagram: dein watson-Update!
Hier findest du unseren
Broadcast-Channel, in dem wir dich mit den watson-Highlights versorgen. Und zwar nur einmal pro Tag – kein Spam und kein Blabla, versprochen! Probiert es jetzt aus. Und folgt uns natürlich gerne
hier auch auf Instagram.
Ich und viele andere rechneten nicht damit, dass sich Wladimir Putin auf einer Mission befand. Einer Mission des Bösen, die direkt in den Schlund der Hölle führte.
Man hätte es ahnen können. Der Krieg hatte eigentlich schon 2014 begonnen, mit der Annexion der Krim und dem Versuch Putins, die Regionen Donezk und Luhansk im Donbass mithilfe von "Separatisten" von der Ukraine abzutrennen. Ein "Kollateralschaden" war der Abschuss von Flug 17 der Malaysia Airlines. 298 Menschen kamen ums Leben.
Aus dem Nichts an die Spitze
Putin selbst soll die Anweisung erteilt haben, das dabei verwendete Waffensystem an die Separatisten zu liefern, gab ein Ermittlerteam kürzlich bekannt. Wer sonst?, möchte man fragen. Seit Wladimir Putin vor bald einem Vierteljahrhundert wie aus dem Nichts an die Spitze des russischen Staats aufgestiegen war, hatte er alle Macht bei sich konzentriert.
Aus einer ursprünglichen Annäherung an den Westen, die wir vielleicht auch durch die rosa Brille betrachtet hatten, entstand mit der Zeit eine tiefe Abneigung. Eigentlich aber beruhen seine Ressentiments auf dem Zerfall der Sowjetunion, den er als KGB-Offizier miterlebt hatte. Er bezeichnete ihn als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.
Man muss ihn beim Wort nehmen
Schon gar nicht abfinden konnte sich Putin mit der Unabhängigkeit der Ukraine, die Nationalisten als Kleinrussland bezeichnen. Dabei hatte die damalige russische Regierung sie 1994 im Budapester Memorandum explizit anerkannt. Im Gegenzug verpflichtete sich der junge Staat, sein Atomwaffenarsenal, das damals drittgrößte der Welt, zu vernichten.
Eiegentlich ist Russland eine Schutzmacht der Ukraine.Bild: imago images/ Itar Tass
Putin aber sagte 2008 dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush, die Ukraine sei kein "richtiges" Land. Es war ein Fehler des Westens, solche Sprüche nicht ernst zu nehmen. Heute ist klar, dass man Putin beim Wort nehmen muss. Er meint, was er sagt.
"Make Russia great again"
Ebenfalls verdrängt hatte man, dass der Krieg ein fester Bestandteil von Putins Repertoire war, seit Boris Jelzin ihn zum Nachfolger ernannt hatte. Es begann 1999 mit dem zweiten Tschetschenien-Krieg, der überaus brutal geführt wurde. Er diente dem zuvor unbekannten Apparatschik aus St. Petersburg dazu, seine Herrschaft zu "legitimieren".
Es folgten der Georgien-Krieg 2008, die Krim-Annexion und die Intervention in Syrien, um das Regime von Baschar Assad vor dem Kollaps zu retten. Der Einmarsch in die Ukraine ist eine logische Fortsetzung dieser Gewaltspirale. Manche im Westen glauben, der überstürzte US-Abzug aus Afghanistan im August 2021 habe ihn dazu ermuntert.
Übersehen wird, dass Wladimir Putin einige Wochen zuvor einen von ihm selbst verfassten "Essay" veröffentlicht hatte, der sich wie eine Art Manifest zur "Heimholung" der Ukraine ins russische Imperium liest. "Make Russia great again" ist für ihn zu einer fixen Idee geworden, die er mit dem Marschbefehl am 24. Februar 2022 in die Tat umsetzen wollte.
Und nun?
Überbleibsel von Russlands gescheitertem Angriff auf Kiew.Bild: dpa / Efrem Lukatsky
Zuerst ist noch etwas Selbstkritik fällig. Ich dachte, der Krieg werde Putin isolieren. Hatte sich China nicht kurz zuvor noch klar zur territorialen Integrität der Ukraine bekannt? Als es losging, stellte sich Peking sofort an die Seite Moskaus. Auch der Globale Süden zeigt befremdlich großes Verständnis für Putins kolonialen Eroberungskrieg im Nachbarland.
Die Wirkung der Sanktionen habe ich wie viele andere ebenfalls überschätzt. Sie haben der russischen Wirtschaft nicht so geschadet, wie erhofft. Dazu trugen auch die Europäer und vor allem Deutschland bei. Sie kauften russisches Gas, solange es ging. Die schiere Größe des Landes und sein Rohstoffreichtum haben einen Kollaps Russlands verhindert.
Putins Hirngespinste
Aber sonst? Russlands "militärische Spezialoperation" verläuft überhaupt nicht nach Plan. Das vermeintliche strategische Genie Putin hat sich als Dilettant entpuppt. Sein Hirngespinst, das "Neonazi-Regime" in Kiew mit einem Blitzkrieg von wenigen Tagen stürzen zu können, zerschellte an der eigenen Hybris und am Widerstand der Ukrainer.
Viele auch im Westen glaubten, sie hätten gegen die übermächtige russische Armee keine Chance. Doch diese stützt sich noch immer ab auf die hierarchische Kommandostruktur aus Sowjetzeiten. Und ihre vermeintliche Modernisierung war ein weiteres Hirngespinst. Weil das Kommunikationssystem nicht funktionierte, benutzten die Offiziere ihre Mobiltelefone.
Eine Karikatur seiner selbst
So wurde der russische Vormarsch auf Kiew zur Lachnummer. Während der Ex-Komiker Wolodymyr Selenskyj in der Stunde der Not über sich hinauswuchs. Bei Kriegsbeginn wollten ihm die Amerikaner zur Flucht verhelfen, doch der ukrainische Präsident reagierte mit einem denkwürdigen Satz: "Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit!"
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des russischen Überfalls.Bild: Ukrainian Presidential Press Off / Uncredited
Zwei Tage nach Beginn der Invasion veröffentlichte er das erste von vielen Videos, mit denen er den Widerstand der Ukrainer beschwor. Während Wladimir Putin sich im Kreml verkroch, hinter absurden Tischen, umgeben von Hofschranzen. "Wie viele Autokraten wurde er zu einer Karikatur seiner selbst", schrieb der britische Historiker Mark Galeotti in der "Sunday Times".
Grassierende Korruption
Er hat mehrere Bücher über Russland und Putin geschrieben und kennt die Mechanismen im Kreml. Wladimir Putin hat in seiner viel zu langen Amtszeit ein mafioses System etabliert, dessen Profiteure sich hemmungslos bereichern. Als größter Dieb gilt Putin selbst. Er hat Günstlinge an die Spitze von Unternehmen platziert und soll Milliarden abgezweigt haben.
Die grassierende Korruption hat auch vor dem Militär nicht haltgemacht, zum Glück, aus Sicht der Ukraine. Riesige Summen, die für die Aufrüstung gedacht waren, versickerten in dunklen Kanälen. Von seinen modernsten Waffensystemen besitzt Russland nur wenige Exemplare, deren Funktionstüchtigkeit etwa beim Panzer T-14 Armata bezweifelt wird.
Keine unliebsamen Nachrichten
Ein essenzieller Bestandteil von Putins Mafia-Staat ist totale Unterwerfung. Der Präsident hat sich mit Ja-Sagern umgeben. Mark Galeotti erinnerte sich in einem Interview an ein Gespräch mit einem ehemaligen Offizier des Auslandsgeheimdienstes, der schon 2015 sagte: "Wir haben gelernt, dass man dem Zaren keine unliebsamen Nachrichten überbringt."
Der Mafia-Staat: Putin ließ sich den Einmarsch vom Sicherheitsrat absegnen.Bild: imago images / Mikhail Klimentyev
Die in Kiew stationierten russischen Agenten wussten, dass der Einmarsch kein Spaziergang werden würde und die ukrainische Armee dank westlicher Ausbildung und Waffen viel besser aufgestellt war als noch 2014. Doch niemand wollte ihre Warnungen an den "Zaren" weiterleiten. Er wollte lieber das Märchen vom schnellen Sieg hören.
Ein seltsames Vorbild
Nun dauert der Krieg ein Jahr. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Einige – ich nicht – hatten gehofft, Putin werde in seiner Rede vom Dienstag wenigstens ein Signal der Versöhnung aussenden. Nix da! Sie war ein knapp zweistündiges Schattenboxen. Putin versprach wieder einmal den Sieg, doch wie das gehen soll, konnte er nicht sagen.
Kurzum: Es war die Rede eines Verlierers.
Noch immer glauben (zu) viele im Westen, die USA und die NATO-Osterweiterung seien schuld am Krieg. Sie haben nicht zugehört, wie Wladimir Putin sich mehrfach mit Zar Peter dem Großen verglichen hatte, dessen 350. Geburtstag letztes Jahr gefeiert wurde. Und mit seinen Eroberungen. Der Ukraine-Feldzug sollte wohl daran anschließen.
Lügen und belügt werden
Peter der Große war ein Eroberer, doch er war auch ein Visionär, der Russland erneuern wollte und dabei auf westliche Einflüsse und Technologien setzte. Seine neue Hauptstadt St. Petersburg ließ er von westlichen Architekten nach westlichen Vorbildern erbauen. Putin hingegen ist ein Reaktionär, dessen Blick in die Vergangenheit gerichtet ist.
Letztes Jahr wurde der 350. Geburtstag von Zar Peter dem Großen gefeiert, der Russland "verwestlicht" hatte.Bild: IMAGO/ITAR-TASS / imago images
"Das Ergebnis ist ein verrotteter Staat", schrieb Mark Galeotti in der "Sunday Times". Er zitierte einen politischen Kommentator aus Russland, der im privaten Gespräch geklagt habe: "Das Tragische ist, dass man heutzutage unmöglich sagen kann, wann Putin lügt und wann er belogen wird." Tragisch für die Ukraine, aber auch für Russland.
Wie geht es weiter?
Die Erfahrung mahnt zu Skepsis. Russland verfügt noch immer über enorme Ressourcen an Mensch und Material. Putin kann den Krieg lange weiterführen, während den Ukrainern langsam die Munition ausgeht und sie dringend auf neue Waffen angewiesen sind. Gleichzeitig aber kommt die neue russische Offensive im Donbass kaum von der Stelle.
Dafür kommt es in der Moskauer Elite vermehrt zu Machtkämpfen. Wagner-Gründer Jewgeni Prigoschin, Putins Mann fürs Ultra-Grobe, hetzt fast permanent gegen die Armeeführung. Auch der Machthaber verliert seine Aura der Unfehlbarkeit. Hardliner und Kriegstreiber attackieren Putin in den sozialen Medien immer ungenierter.
Vielleicht sitzt Wladimir Putin weniger fest auf seinem Zarenthron, als man von außen meint. Ein Coup der Scharfmacher allerdings wäre für die Ukraine und den Westen keine gute Nachricht. Doch wer weiß in diesem Mafia-Staat, wie es kommt? Ernsthaft verhandeln jedenfalls wird Putin erst, wenn ihm alle Optionen ausgegangen sind.
Wladimir Putin ist von Geschichte regelrecht besessen. Er sei berüchtigt dafür, russische Historiker zu fragen, wie man ihn in hundert Jahren beurteilen werde, so Mark Galeotti. Für den Briten steht fest: "Wegen seiner Invasion in der Ukraine wird man ihn als Versager einstufen, ein Beispiel dafür, wie Verblendung alle ursprünglichen Erfolge ausradieren kann."