Die Nato gründete sich vor 75 Jahren: Westeuropäische Staaten suchten bei den USA militärischen Schutz und Beistand. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg, der Shoa und wegen beginnender Aggressionen des autokratischen Sowjetsystems, war der Wille nach Frieden in Freiheit und Selbstbestimmung groß.
Dieser Wille bewog viele europäische Staaten, dem Bündnis kollektiver Sicherheit beizutreten. Ein Wunsch, für den die Ukraine jetzt kämpft.
Als man glaubte, im Rahmen der Friedensdividende in den 1990ern eine europäische Sicherheitsordnung mit Russland aufbauen zu können, verlor das Bündnis scheinbar an Daseinsberechtigung. Der Gedanke an Beschwichtigung griff auch in Mitgliedsstaaten um sich, der Nato-Russland-Rat sollte zur Vertrauensbildung beitragen.
Deutschland und Frankreich verhinderten 2008 einen sogenannten Membership-Action-Plan für die Ukraine und Georgien und legten die Hürden eines Beitritts für osteuropäische Staaten hoch. Am Ende war es die Nato, die der Ukraine, insbesondere durch deutsche verfehlte "Ostpolitik", den Schutz im Bündnis verweigerte. Kurze Zeit erschien die Nato "hirntot" – man hatte sich doch vergeblich im Narrativ "Wandel durch Handel" eingerichtet und die Bedrohung durch Russland ignoriert.
Umso wichtiger ist dieses Bündnis heute, nicht nur angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine und dem Genozid. Die Bedrohung ist aber größer.
Wir dürfen den russischen Angriffskrieg nicht isoliert betrachten, sondern müssen die hybriden Angriffe im Westbalkan, Moldau, Finnland, auf Taiwan, gegen Israel, im Roten Meer und viele weitere Konflikte als Polykrisen zusammen denken. Der Systemkrieg läuft bereits.
Unsere Kriegsgegner haben sich zusammengetan in der Allianz CRINK: China, Russland, Iran, Nordkorea und weitere Staaten wie Südafrika. Sie gehen gezielt und mit vereinten Kräften vor.
Der Iran sendet Zehntausende Drohnen nach Russland, mit denen täglich die Zivilbevölkerung in der Ukraine terrorisiert wird. Russland bildet die Hamas aus und gibt technologisches Wissen an den Iran. Der Iran finanziert Terrorgruppen wie Hamas, Huthi und Hisbollah, die Israel und westliche Ressourcen im Roten Meer binden.
China schickt Chips wie Halbleiter nach Russland, womit die Kriegswirtschaft am Laufen gehalten werden kann, und kauft billiges russisches Gas und Öl. Nordkorea sendet eine Million Artilleriegeschosse an Russland und löst sich aus seiner internationalen Isolierung. Südafrika macht sich zum Werkzeug des Iran und Russlands in den UN.
CRINK führt einen hybriden Krieg gegen uns: Energie, Vertreibung, Desinformation, Sabotage und Spionage sind Waffen im Instrumentenkasten. Es geht nicht gegen einzelne Staaten, sondern gegen Gesellschaftsmodelle, die auf Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung beruhen.
Die Nato hat sich 2022 aus dem Tiefschlaf gelöst, mit Schweden und Finnland ist sie stärker geworden. Sie muss sich dennoch neu erfinden, denn CRINK ist nicht die einzige Herausforderung für das Bündnis.
Die erste Herausforderung ist eine mögliche Wiederwahl Donald Trumps. Seine Ankündigungen sind ernst zu nehmen. Trump würde die nukleare und konventionelle Abschreckung in Europa in der bisherigen Form unterminieren, jegliche Unterstützung für die Ukraine komplett einstellen. Die Glaubwürdigkeit der Nato wäre ruiniert.
Zweitens muss es der Nato dieses Jahr endlich gelingen, der CRINK-Allianz eine Gesamtstrategie entgegenzusetzen. Vier Punkte sind dabei wichtig:
"Lastenteilung! Lastenteilung! Lastenteilung!" muss der neue Ruf der Nato werden. Denn die Bedrohungslage kann sich in ein bis maximal drei Jahren drastisch zuspitzen. In diesem Zeitraum könnte es für Russland und China ein Zeitfenster geben, in dem ein Angriff auf die Nato oder das Abschneiden des Westens von der globalen Halbleiterproduktion – Einverleibung Taiwans – denkbar wäre.
CRINK könnte sich im relativen Vorteil sehen und nicht abwarten, bis sich die Nato in vier oder acht Jahren "kriegstüchtig" aufgestellt und mit De-Risking und De-Coupling resilienter gemacht hat. Damit die Nato diese Worst-Case-Szenarien verhindert und die Herausforderungen meistert, braucht es eine Änderung im Mindset der Gesellschaften der Mitgliedstaaten.
Viele Länder haben dies mit kluger Kommunikation und effektiver Verteidigungspolitik bereits erreicht. Schlüsselstaaten wie Deutschland und Frankreich müssen sich mental und materiell auf Krieg einstellen und dazu die Zeitenwende im Mindset umsetzen. Mit seiner Strategieänderung scheint Paris unter Präsident Macron endlich diesen überfälligen Wandel vollziehen zu wollen.
Zu dieser Änderung gehört auch, die Fesseln der Selbstabschreckung endlich abzulegen und mit Einigkeit, Stärke und Konsequenz bei der Unterstützung der Ukraine voranzugehen. Die Ukraine kann weiterhin siegen und ihre Grenzen von 1991 wiederherstellen, wenn sie endlich mit allem – so viel und so rasch wie möglich – unterstützt wird, und ihr keine roten Linien gesetzt werden. In diesem Sinne gilt: die Ukraine beim Washington-Gipfel einladen, Nato-Mitglied zu werden, sobald es die Sicherheitsbedingungen zulassen.
Die Verteidigung von Frieden in Freiheit und Selbstbestimmung war Ursprung und Antriebsfeder der Nato. Dies muss umso mehr gelten, wenn die Nato CRINK abschrecken will. Die Nato muss sich neu erfinden und zugleich zu ihren Ursprüngen zurückkehren. Damit dies gelingt, muss die Ukraine gewinnen und Russland verlieren lernen: Das heißt, Moskau muss das Existenzrecht seiner Nachbarstaaten unwiderruflich anerkennen und erfolgreich eingehegt werden.
Ansonsten hat Europa keine Chance und die transatlantische Partnerschaft wird überstrapaziert. Ansonsten läuft uns die Zeit davon und es folgt erneut ein Zeitalter von Tyrannei, Unterdrückung, Krieg und Armut in Europa.
Ein Sieg der Ukraine hingegen kann Blaupause sein dafür, dass Recht über Unrecht siegt. Dass Freiheit über Unterdrückung siegt, und Sicherheit über Terror. Und es kann Blaupause für eine Nato sein, die wie kein anderes Bündnis weltweit für Frieden in Freiheit und Selbstbestimmung steht.