Das provisorische Camp Kara Tepe liegt direkt an der Küste Lesbos. Die Menschen sind der Witterung ausgesetzt.Bild: Eurokinissi / Panagiotis Balaskas
Interview
09.06.2022, 13:0909.06.2022, 14:23
Meeresrauschen, melancholische Musik. So startet der Podcast "Memento Moria – Was heute an Europas Grenzen passiert". Man hört das Piepen eines Smartphones, das eine Nachricht empfängt. Es wird eine Sprachnachricht abgespielt. Eine zittrige Frauenstimme: "We are refugees from Afghanistan. We need help!"
Die Frau aus der Sprachnachricht saß am 9. Januar 2022 gemeinsam mit 24 anderen Menschen in einem Schlauchboot in der Nähe der türkischen Grenze auf dem Weg nach Europa. Genauer: auf dem Weg nach Lesbos. Die griechische Insel liegt zehn Kilometer von der Türkei entfernt. Unter den 25 Menschen auf dem Boot sind 17 Kinder.
Ein Schlauchboot mit Geflüchteten kommt im März 2016 aus der Türkei in Griechenland an.Bild: NurPhoto / Nicolas Economou
Im Podcast "Memento Moria – Was heute an Europas Grenzen passiert" geht es um die heutige Situation an den europäischen Außengrenzen. Dazu sind die Journalistin Sham Jaff und die Reporterin Franziska Grillmeier an den äußersten Rand Europas gereist: nach Lesbos. Dort hin, wo vor zwei Jahren das Flüchtlingscamp Moria abgebrannt ist.
Wie ist die aktuelle Situation auf Lesbos und welche Rolle spielt die EU in der Migrationspolitik? Darüber hat watson mit Franziska Grillmeier und Sham Jaff gesprochen.
Jeden Tag sterben Menschen auf der Flucht vor Krieg und Gewalt in ihrem Heimatland an den EU-Außengrenzen. In eurem Podcast "Memento Moria – Was heute an Europas Grenzen passiert" beschreibt ihr die Geschichten von Asylsuchenden und was mit ihnen an den Grenzen Europas passiert. Konkret in Griechenland. Lesbos. Wie habt ihr die Recherche erlebt?
Sham Jaff: Uns wurde irgendwann bewusst: Wir müssen nach Lesbos reisen. Zu Franziska. Sie lebt schon seit mehreren Jahren dort. Wir wollten den Ort, an dem diese politischen Ereignisse – also das Versagen der europäischen Politik in der Aufnahme tausender Schutzsuchender im Jahr 2015 – stattgefunden haben, besser begreifen.
Hat sich das bestätigt?
Sham: Die Stadt Mytilini, in der sich Moria befand, hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, hier vor Ort zu recherchieren. Dadurch bekommt man einen ganz anderen Blick auf die Insel Lesbos. Täglich kommen dort immer noch Geflüchtete an. Wir haben zum Beispiel erfahren, was mit ihnen passiert, wo sie untergebracht werden. Und auch: was wirklich nach dem Brand des Camps Moria passiert ist und vor allem kurz vorher. Das alles wird in den nächsten Folgen des Podcasts eine Rolle spielen.
Im Jahr 2020 steht das Camp Moria auf Lesbos in Flammen. Bild: dpa / Socrates Baltagiannis
Das hört sich nach einer ganz besonderen Zusammenarbeit an.
Franziska Grillmeier: Definitiv. Vor allem sehen wir uns beide aber nur als Bindeglied zwischen dem Geschehen vor Ort und den Menschen, die unseren Podcast hören. Es geht um die Menschen, die von der Politik der EU betroffen sind und um diejenigen, die sich dagegenstemmen. Wie zum Beispiel Anwältinnen und Anwälte oder Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, die immer wieder in Fadenkreuz der Behörden geraten. Lesbos ist dabei nur ein Symbolbild für sehr viele Orte an der europäischen Außengrenze, an denen mit Menschenrecht gebrochen wird, um die Grenzen dichtzuhalten.
Dafür ist diese Insel auch sehr besonders. Es ist ein Ort, an dem sich schon seit über 100 Jahren Fluchtgeschichten und Lebenslinien aus der ganzen Welt begegnen.
Der Blick aus dem 'Inneren', vor allem von dir Franziska, war also ein Vorteil für euch. Du lebst schon seit Jahren auf Lesbos. Wie hältst du es aus, jeden Tag dieses Leid zu sehen?
Franziska: Eines meiner Hauptthemen, über die ich als Journalistin schreibe, ist Migration. Deshalb bin ich generell viel an den europäischen Außengrenzen unterwegs. Zuletzt in Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Polen oder Belarus. Da gibt es leider erschreckend viele Parallelen im Umgang mit Schutzsuchenden. Ob das nun die Push-Backs betrifft, die Unterbringung, oder die Möglichkeit, ins Krankenhaus zu kommen, wenn man sich das Bein bricht.
Das klingt illegal.
Franziska: An den Grenzen besteht dort zum Teil wirklich eine rechtliche Parallelwelt. Denn natürlich sind diese Grenzen auch wunderschöne Wälder und Inseln. Vergangenes Jahr sagte eine polnische Aktivistin an der belarussischen Grenze zu mir: 'Ich werde nie wieder auf die gleiche Weise in diesen Wald laufen können. Hier war ich früher oft als Kind. Das ist einer der mystischsten Orte und einer der ältesten Wälder Europas. Warum müssen die schlimmsten Dinge immer an den schönsten Orten passieren?'
Eine berechtigte Frage.
Franziska: Das ist aber die Welt, in der wir leben. Diese Kontraste sind da und sie sind an manchen Stellen besonders scharfkantig und kaum auszuhalten.
Nach dem Brand von Moria schlafen die Menschen am Straßenrand vor dem ehemaligen Camp.Bild: dpa / Socrates Baltagiannis
Ihr habt viel vor Ort erfahren und mit vielen Menschen gesprochen. Was war das einschneidendste Erlebnis für euch?
Franziska: Für mich sind die einschneidendsten Momente, die, in denen die Stille kommt. Nicht die lauten Momente. Wenn Menschen im Überlebenskampf sind, konzentriert sich mein Kopf auf das Geschehnis. Ich dokumentiere es und setze mich später damit auseinander.
Die Momente, die mich dann am meisten zerlegen, sind die, in denen ich spüre, dass Menschen gerade jede Kraft aufbringen. Trotzdem aufstehen jeden Tag. Trotzdem ihre Kinder versuchen zu unterrichten. Trotzdem ihre Toten zu beerdigen. Trotzdem anreisen und trotzdem 'Ja' zum Leben sagen. Diese Momente beschäftigen mich am nachhaltigsten.
Und für dich, Sham?
Sham: Für mich persönlich war es unglaublich interessant, so viele verschiedene Perspektiven kennenzulernen. Ich habe mit Personen gesprochen, die politisch für die Situation verantwortlich sind. Aber auch mit Menschen, die Opfer dieser politischen Entscheidungen sind. Und ich habe auch mit Menschen gesprochen, die aktiv etwas tun, um an dieser Situation etwas zu verändern.
Wir möchten diese Geschichte richtig erzählen. Damit die Menschen ein klareres Bild davon bekommen, was an Europas Grenzen passiert. Denn für viele ist das nicht präsent.
Das stimmt. Die letzten Berichte über das Camp Moria sind lange her. Im März 2021 hatte die EU der griechischen Regierung insgesamt 276 Millionen Euro für den Bau von fünf neuen Lagern zugesagt. Die sollten ursprünglich bis Ende 2021 auf den ägäischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos errichtet werden. Passiert ist aber wenig. Wie ist die Situation aktuell auf Lesbos?
Franziska: Schon vor dem Brand in Moria gab es den Plan, neue Hochsicherheitslager zu bauen. Die griechische Regierung wollte geschlossene Camps daraus machen. Von den geplanten fünf wurden bereits drei eröffnet: auf den Inseln Samos, Leros und Kos. Moria war immer nur eines von über 30 Lagern in ganz Griechenland und eines von fünf auf den ägäischen Inseln. Allerdings das Größte, weshalb hier auch die ganze Medienaufmerksamkeit lag. Aber ähnliche Zustände gab es auch auf den anderen Inseln.
Menschen fliehen im September 2020 aus dem brennenden Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos, Griechenland.Bild: dpa / Socrates Baltagiannis
Was ist mit den Menschen passiert, als ausgerechnet das größte dieser Lager abgebrannt ist?
Franziska: Nach dem Feuer gab es dann das temporäre Lager Kara Tepe, was übersetzt so viel wie der 'Schwarze Hügel' bedeutet. Das war eine Woche zuvor noch ein Schießübungsplatz. Dort wurden dann so viele Zelte wie möglich hingebracht, um ein neues Lager zu bauen. Was man aber nicht vergessen darf: auf der Insel gibt es auch noch Inselbewohner, die wahnsinnig müde sind. Und von der Situation frustriert, dass sie 2015 im Stich gelassen wurden. Sie beobachten eigentlich nur eine Evolution von Lagern, die immer schlimmer werden. Im Gegensatz zu anderen Inseln hat sich auf Lesbos vor allem ein großer Widerstand geformt.
Und heute?
Franziska: Jetzt überwirft sich die Inselbevölkerung in einem Patt-Verhältnis mit den politischen Entscheidungen. Lesbos ist zwölf Fährstunden von Athen entfernt. Die Inselbevölkerung ist es also gewohnt, für sich einzustehen. Einzelne Gruppen haben es nicht zugelassen, dass neue Lager gebaut werden. Deshalb existiert das temporäre Lager noch immer. Es sind jetzt noch um die 1200 Menschen in Kara Tepe. Das sind aber viel weniger als nach dem Feuer. Da waren es so 13.000 oder 14.000.
Was ist mit dem geplanten neuen Lager passiert?
Franziska: Im Moment ist das neue Lager immer noch in Verhandlungen. Langsam beginnen jedoch auch die Bauarbeiten.
Das neue Lager soll im Hinterland von Lesbos – ohne jegliche Infrastruktur, außer einer Mülldeponie – entstehen. Ein Ort, an dem man mehr als eineinhalb Autostunden zur nächsten Hafenstadt bräuchte. Und auch im provisorischen Lager Kara Tepe herrschen schlechte Bedingungen. Es liegt direkt an der Küste. Die Menschen sind dort jeglicher Witterung ausgesetzt. Wird das bewusst von der Regierung so geplant?
Franziska: Es geht darum, die Leute auszulagern. Dass sie gar nicht mehr die Motivation haben, außerhalb des Lagers zu leben.
Aber grundsätzlich ist das neue Lager schon darauf ausgelegt, eine Verbesserung der Infrastruktur für die Menschen herbeizuführen. Zustände wie vor dem Brand soll es nicht mehr geben. Also: keine Elektrizität, keine medizinische Versorgung, keine Toiletten, kein fließendes Wasser. Aber das Sich-selbst-überlassen-Sein hat jetzt dazu geführt, dass wir eine komplette Überwachung haben.
Was heißt das?
Franziska: Vor dem Brand gab es fünf Polizisten und Polizistinnen. Jetzt sind es 300, die innerhalb von 24 Stunden immer wieder durchrotieren. Die Menschen stehen unter ständiger Beobachtung. Sie haben nicht mehr den Freiraum, sich kulturell auszuleben oder Schulen zu organisieren. Ich habe im alten Camp wahnsinnig viel Musik gehört und Tanz gesehen. Das brauchten die Menschen, um Moria zu überleben. Jetzt isolieren sie sich und haben keinen Kontakt mehr nach außen.
Sham: Die Menschen sollen versteckt werden. Von der griechischen Gesellschaft abgetrennt. Sie sollen an einem Ort sein, an dem sie isoliert sind vom Geschehen, nicht rauskönnen und am kulturellen Leben nicht teilhaben dürfen.
Tagelang mussten Flüchtlinge vor dem Camp Moria auf eine Registrierung warten.Bild: Geisler-Fotopress / Marcus Golejewski/Geisler-Fotopress
Ihr sprecht im Podcast immer wieder von einem Versagen der europäischen Politik. Im Falle der ukrainischen Geflüchteten schafft es die EU allerdings zu handeln. Lenkt der russische Angriffskrieg jetzt noch mehr von den Problemen in Lesbos ab?
Franziska: Es geht darum, wie man Menschen labelt. Geflüchtete aus anderen Regionen, wie Afghanistan, Somalia, dem Irak oder Bangladesch – eben anderen Orten als der Ukraine – werden im Moment kriminalisiert. Für sie gibt es keinen legalen Weg, um nach Europa zu kommen. Dieses Recht steht aber gegenüber dem Recht auf Asyl, das teilweise immer weiter ausgehebelt wird. Und nicht nur das: Die Menschen werden zum Teil brutal zurückgedrängt oder einer lebensbedrohlichen Situation überlassen. Um sie davon abzuhalten, über die Grenze zu gehen.
Was ist in der Ukraine anders?
Franziska: An der ukrainischen Grenze gibt es so etwas nicht. Dort gibt es Menschen, die Schutz suchen. Und die EU hat, wie Nancy Faeser es ausgedrückt hat, im Schulterschluss agiert. So, wie es sein sollte. Staaten haben nicht zu unterscheiden, wer an die Außengrenzen kommt. Alle sollten das Recht auf ein gerechtes Asylverfahren bekommen.
Das klingt, als hättest du an diesem Punkt Hoffnung gehabt, Franziska. Hat denn dieses Handeln der EU im Falle der Ukraine etwas genützt für Lesbos?
Franziska: Leider nicht.
Was müsste sich ändern?
Sham: Mehr Menschen müssen verstehen, was an den Außengrenzen passiert. Ich glaube, das ist ein großer Schritt, zu dem wir gesellschaftlich kommen müssen.
Mit dem Podcast soll also vor allem in der Zivilgesellschaft eine Art Aufklärung stattfinden. Was wollt ihr politisch erreichen?
Franziska: Wenn die Frustration groß genug ist, könnten politische Entscheidungen viel transparenter beobachtet und kritisiert werden. Viele Menschen sehen die europäische Asylpolitik nach dem Podcast vielleicht mit anderen Augen.
Sham: Und sie könnten sich die Frage stellen: 'In welcher Welt wollen wir leben?'