Die Gen Z ist links-grün-versifft? Stimmt nicht. Die beliebteste Partei der 14- bis 29-Jährigen ist inzwischen die ganz-weit-rechtsaußen-Partei AfD. Das hat kürzlich die Trendstudie "Jugend in Deutschland 2024" belegt. Und auch in ihren europapolitischen Ansichten befindet sich die Gen Z weit rechts.
Und Deutschland ist damit europaweit nicht allein: Der Rechtsruck ist real. Das sehen auch die Jugendorganisationen der Ampelparteien so.
Im Interview mit watson diskutierten Katharina Stolla (Grüne Jugend), Philipp Türmer (Jusos) und Tobias Weiskopf (JuLis) über die Zukunftsfähigkeit der EU. Die JU hatte ebenfalls zugesagt, war jedoch kurzfristig verhindert. Das Interview wird in zwei Teilen erscheinen.
watson: Was bedeutet die EU für euch persönlich?
Katharina Stolla: Viele prägende Erfahrungen, die ich machen durfte: Schüleraustausch in Frankreich, Freiwilligendienst in Belgien, Erasmus in Norwegen. Ich weiß das sehr zu schätzen. Allerdings lässt dieses Projekt immer noch zu viele Menschen zurück.
Tobias Weiskopf: Privat spüre ich in erster Linie die Reisefreiheit, ich bin wahnsinnig gern in Europa unterwegs. Als ich klein war, mussten wir beispielsweise Richtung Kroatien noch lange im Grenzstau stehen, mittlerweile ist die Fahrt in das frische Schengenmitglied ohne Kontrollen möglich. Und gerade jetzt, wo wir wieder schmerzlich daran erinnert werden, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist, macht es mich stolz, dass die EU ein Garant für Frieden ist. Ebenso ist die EU eine Wertegemeinschaft.
Ist das wirklich so?
Tobias: Einzelne Länder sind sicherlich problematisch, wie Polen oder Ungarn. Doch gerade haben wir in Polen gesehen, dass es doch eine demokratische Mehrheit gibt, deshalb ist die EU für mich ganz klar ein Wertebündnis.
Katharina: Wobei man sagen muss, dass die EU vor allem wegen wirtschaftlicher Interessen gegründet wurde und sich das bis heute in ihrer neoliberalen Politik widerspiegelt. Die führt an vielen Stellen leider zu einer unsozialen Politik und lässt in ganzen Staaten Sozialsysteme herunterrocken, was zu viel unnötigem Leid für die Menschen führt.
Tobias: Das stimmt nicht. In keiner anderen Region der Welt geht es den Menschen so gut wie in Europa. Die EU hat durch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen viel Wohlstand gebracht, wodurch sich viele Mitgliedsstaaten gewisse soziale Standards leisten können.
Philipp Türmer: Allerdings profitiert vor allem Deutschland davon, dass man in Europa zwar eine Währungsunion, aber keine Fiskalunion, also eine EU mit ausreichend eigenem Budget, geschaffen hat. Es war immer das Versprechen, dass die finanzschwächeren Länder schneller aufholen können, doch das wurde in den vergangenen Jahrzehnten nicht eingelöst. Deshalb muss dringend die starke wirtschaftliche Säule der EU um eine eigene fiskalische Handlungsfähigkeit und eine Sozialunion erweitert werden.
Ist Deutschland hier ein verlässlicher Partner?
Philipp: Deutschland ist einer der größten Zahler der EU. Allerdings springt für uns auch einiges dabei heraus. Ich wünsche mir, dass sich Deutschland proeuropäischer engagiert und die EU darin stärkt, mehr Eigenmittel zu haben, also mehr direkte Einnahmen.
Katharina: Es wird gerne so getan, als sei Deutschland Vorreiter. Das ist eine Illusion. Der Mindestlohn beispielsweise ist mit 12,41 Euro bei weitem nicht da, wo er mit 14 Euro sein müsste. Dass Deutschland aber eins der mächtigsten Länder in der EU ist, ist nicht zu leugnen. Diese Macht müsste Deutschland viel besser nutzen, um eine bessere europäische Politik voranzutreiben.
Tobias: Ja, wir müssen zum Beispiel bei der Unterstützung der Ukraine noch mehr vorangehen. Wenn man das in Richtung Jusos formulieren darf: Wir wünschen uns mehr Rückhalt von euch, dem Kanzler mehr Druck zu machen, dass diese Unterstützung nicht nachlässt.
Philipp: Ich verstehe den ampelinternen Widerspruch zwischen SPD und FDP nicht, den du da versuchst aufzumachen. Es wäre aber schön, wenn ihr wirklich so proeuropäisch handeln würdet, wie du es grade forderst. Denn vor allem die FDP bremst massiv wichtige europäische Vorhaben, wie zuletzt das EU-Lieferkettengesetz oder die Plattformrichtlinie.
Deutschland ist ein Bremsklotz in der behäbig agierenden EU. Die europäische Regulierungspolitik verhindert Innovation. Das besagt die aktuelle Megatrendstudie Globalisierung des Zukunftsinstituts. Wie wollt ihr das der Jugend verkaufen?
Katharina: Das ist richtig. Vor allem in der jungen Generation nehme ich wahr, dass der Bezug zu Europa verloren geht. Dass sie sich fragen, ob es sich überhaupt lohnt, für Europa wählen zu gehen. Das finde ich besorgniserregend.
Woran liegt das?
Katharina: Ich glaube, dass das ein Ergebnis der Politik der letzten Jahre ist. Immer mehr junge Menschen haben das Gefühl, außen vor gelassen zu werden. Dass die Politik nicht für sie da ist. Das muss aber der Anspruch von nationaler und internationaler Politik sein – da helfen aber Interrailticket-Verlosungen leider nur begrenzt.
Tobias: Wir tun schon viel für junge Menschen, zum Beispiel in der Bildung mit Erasmus. Wir JuLis wollen dieses Projekt für Schüler ausbauen, um sie schon früh mit der EU in Berührung zu bringen.
Katharina: Es ist gut, wenn Austauschprogramme gestärkt werden, aber wenn die EU ihre sozialen Versprechen – auch für junge Menschen – nicht einlösen kann, verstehe ich, dass das Gefühl aufkommen kann.
Philipp: In manchen Bereichen muss man sich fragen: Hat es diese Regularien jetzt wirklich gebraucht? In anderen Bereichen sind sie aber super wichtig, wie beispielsweise in der Pharmaindustrie zur Qualitätssicherung oder um gute Arbeitsbedingungen für Plattformarbeiter:innen zu gewährleisten. Ich bin überzeugt: Die EU als reines Bürokratiemonster darzustellen, ist unehrlich.
14 Prozent der Erstwähler:innen denken laut einer Studie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), die AfD würde die Probleme in Europa, ebenso wie die SPD, am besten angehen. Wie blickt ihr darauf?
Philipp: Genauso wie die CDU in Deutschland, rutscht auch die EVP auf europäischer Ebene immer stärker in den Rechtspopulismus ab. Das bereitet mir große Sorgen. Als ursprünglich konservative, aber zumindest proeuropäische Partei ist sie nun anti-europäisch und europaskeptisch geworden. Wir müssen alles dafür tun, gegen den Rechtsruck anzukämpfen.
Wie konkret?
Philipp: Mit zwei Säulen: Immer, wenn Länder den Rechtsstaat untergraben, muss der Rechtsstaatsmechanismus greifen. Das heißt, ihnen müssen dann Gelder entzogen werden. Als Zweites muss die EU endlich anfangen, die sozialen Probleme der Menschen mit anzupacken. Sie könnte zum Beispiel dafür sorgen, dass es endlich möglich wird, die unsoziale Besteuerung von Lebensmitteln und Co abzuschaffen.
Tobias: Den Rechtsruck bekämpfen wir nicht durch eine Steuerreform für Lebensmittel, sondern durch richtige Antworten auf die Migrationsfrage. Wir haben eine irreguläre Migration, wir wissen nicht mehr, wer zu uns kommt, die Grenzländer sind überlastet. Deshalb müssen wir die EU-Außengrenzen schützen. Dazu wollen wir Frontex stärken und mit Exekutiv-Befugnissen ausstatten. Dabei muss natürlich die Menschenwürde gewahrt werden.
Katharina: Damit widersprichst du dir selbst: die Menschenwürde schützen, aber gleichzeitig die Grenzschutzagentur Frontex stärken. Die führen illegale Pushbacks durch. Und Rechten nimmt man nicht den Wind aus den Segeln, indem man ihnen hinterherläuft und auf ihre Forderungen eingeht, das Asylrecht zu verschärfen.
Aus der Studie geht auch hervor, dass 80 Prozent der Erstwähler:innen die EU gut finden. Wie erklärt ihr euch den Widerspruch: Einerseits die EU als positives Projekt, andererseits kann die AfD mit den Problemen angeblich am besten umgehen?
Katharina: Diese Beobachtung steht ja im Zusammenhang mit einem Rechtsruck, der die gesamte Gesellschaft betrifft – und deshalb natürlich auch junge Menschen. Das Problem, dass immer mehr junge Menschen das Gefühl haben, bei demokratischen Parteien keine guten Angebote mehr zu haben, muss dringend ernst genommen werden.
Philipp: Menschen wählen die AfD meiner Meinung nach nicht unbedingt, weil sie irgendetwas besser könnte. Sondern sie sind entweder eingefleischte Faschos – die muss man klar bekämpfen – oder sie stehen der Entwicklung der Gesellschaft pessimistisch gegenüber. Da müssen wir ansetzen und es hinbekommen, wieder eine positive Erzählung von Europa zu formen. Wir müssen das Versprechen für Aufstieg durch Arbeit und Bildung erneuern und ein Zukunftsbündnis werden.
Im zweiten Teil des Interviews geht es um die Gefahren, die der EU aus Russland und durch die Wiederwahl Donald Trumps in den USA drohen.