Im Juni findet die EU-Wahl statt. Ein Thema empfinden die Europäer:innen derzeit als besonders wichtig.Bild: imago images / Pond5
Analyse
An einem frühen Morgen lädt das European Council on Foreign Relations (ECFR) zum Frühstück unter den Linden in Berlin ein. Die wärmenden Sonnenstrahlen legen sich auf die grauen Hauswände der historischen Gebäude. Inmitten dieser Location sitzt das Büro der Denkfabrik ECFR.
Ihr Augenmerk liegt, wie der Name schon verrät, auf Europa. Dabei forscht ECFR unter anderem zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik und möchte eine fundierte Debatte über Europas Rolle in der Welt fördern. An diesem Morgen dreht sich alles um die kommende Europawahl im Juni.
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Der Duft von frischem Kaffee steigt in die Nase, ein Stimmenkonzert summt in den Ohren und der Geschmack von Croissants mit Nougat liegt auf der Zunge. Das Frühstücksbuffet soll offenbar die bitteren Ergebnisse versüßen, die Mark Leonard, der Gründungsdirektor von ECFR, vorstellt.
EU-Wahl: Rechte Parteien legen einen Zahn zu
Unter dem Titel "Europawahl: Was denken die Wähler wirklich?" präsentiert Leonard die Ergebnisse der jüngsten Umfragen. Er fällt gleich zu Beginn mit der Tür ins Haus: Es ist mit einem Rechtsruck zu rechnen. Sprich, der rechte Flügel wird an Stimmen zulegen, wie etwa die "European Conservatives and Reformists"-Fraktion. (ECR). Die liberale "Renew Europe" und sozialdemokratische "Progressive Alliance of Socialists and Democrats" verlieren hingegen an Zustimmung.
Die Denkfabrik ECFR präsentiert eine Vorhersage für den Ausgang der EU-Wahl im Juni.bild / anne hamilton
Eine Prognose, die angesichts der politischen Landschaft in Europa wohl wenig überrascht. Unerwartet sind hingegen die Themen, die laut Leonard die Menschen in Europa bewegen und damit eine Rolle bei der EU-Wahl spielen.
Migration ist nicht Thema Nummer eins bei der Europawahl
Das Thema Migration spielt laut Leonard nicht die entscheidende Rolle bei der Wahl im Juni. An oberster Stelle stehen die globalen Turbulenzen der Wirtschaft – befeuert unter anderem durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Vor allem in europäischen Ländern wie Italien und Griechenland sei dies ein sehr wichtiger Faktor, wenn es um die Zukunft geht. Die Deutschen schwimmen aber gegen den Strom, bei ihnen sieht das Ergebnis genau andersherum aus.
In Deutschland spielt die Einwanderungspolitik die größte Rolle, die Wirtschaftskrise eher weniger. Was außerdem heraussticht: Die Corona-Pandemie gilt als zweitwichtigstes Thema für die Europäer:innen. Auf dem dritten Platz landen die Klimakrise und der Krieg in der Ukraine. Vor allem Menschen in Frankreich empfinden das Thema Klimawandel als enorm wichtig. Die russische Invasion ist besonders in Polen eine große Sache, als direkter Nachbar der Ukraine.
Dem militärischen Konflikt in Gaza zwischen Israel und der Terrorgruppe Hamas rechnen die Menschen in Europa weniger Gewicht zu, wie die Umfrage zeigt. Das Thema bildet das Schlusslicht.
Beim Gaza-Krieg geben 35 Prozent der Befragten aus zwölf europäischen Ländern an, dass die EU eine negative Rolle spielt. Auch der Umgang mit der EU-Finanzkrise hätte laut 41 Prozent der Befragten besser sein können. Bei dem Ukraine-Krieg sieht es ausgeglichener aus, 29 Prozent bewerten die EU-Rolle darin als positiv und 37 Prozent als negativ.
Den Ukraine-Krieg zum Mittelpunkt einer politischen Kampagne zu machen, wird aber nach Ansicht von Leonard eher nach hinten losgehen, da die Zuversicht in die Erfolgsaussichten der Ukraine schwindet (nurmehr 10 Prozent der Befragten trauen der Ukraine zu, den Krieg zu gewinnen, so die ECFR-Erhebung).
Gerade in Deutschland gehen laut Leonard die Meinungen über den Krieg in der Ukraine weit auseinander.
Ukraine-Krieg spaltet die Geister in Deutschland
Jeder zweite Wählende der AfD und des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) bewertet die Rolle der EU im Umgang mit dem russischen Angriffskrieg als negativ. Bei der Grünen-Wählerschaft sieht das genau andersherum aus: Jede:r Zweite sieht es positiv.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist auf EU-Hilfen angewiesen, um Russlands Invasion abzuwehren. Bild: BELGA / Nicolas Maeterlinck
Dazu kommt Leonard zufolge, dass die Gefahr eines Angriffs von Russland auf den Westen in vielen europäischen Ländern kaum Teil des Diskurses ist, wie etwa in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien. Höchstens in Polen spiele dieses Szenario eine große Rolle.
Gordon Repinski, Chefredakteur von Politico Germany, wirft an dieser Stelle ein: Grund sei, dass die Menschen es so unterschiedlich betrachten. Er spricht von zwei Gruppen: Die eine fragt sich, wohin es führt, sollte der Westen nicht mehr für die Ukraine unternehmen. Die andere fragt sich genau das Gegenteil: Wohin führt es, mischt sich die EU zu sehr ein. "Keiner weiß, welcher der bessere Weg ist", meint er. Daher scheiden sich hier so sehr die Geister.
Eine weitere enorme politische Kluft in Deutschland bildet das Thema Klimapolitik.
Klimakrise: Wie die Stromrechnung die Meinung in Deutschland spaltet
Wenn es um die Stromrechnung geht, verstehen die AfD- und BSW-Wählenden offenbar keinen Spaß mehr. Jeweils mehr als 70 Prozent geben an, dass die europäischen Regierungen alles Mögliche unternehmen sollten, die Rechnungen für Energie niedrig zu halten – selbst wenn das heißt, das Kohlenstoff-Emissionsziel zu verfehlen.
Interessant: Diese Meinung vertritt jede:r zweite Deutsche. Lediglich 21 Prozent sehen es wie die Grünen-Anhänger:innen: Fast 70 Prozent fordern, dass Europa alles für den Klimaschutz unternehmen muss, auch wenn die Menschen dafür tiefer in die Tasche greifen sollten.
Bei einem Mann ist die Kluft innerhalb der politischen Landschaft in Deutschland allerdings nicht so extrem - obwohl er dafür bekannt ist zu polarisieren: Donald Trump.
Donald Trump: Deutsche haben wenig Lust auf den Republikaner
Insgesamt wären 69 Prozent der Befragten in Deutschland enttäuscht, sollte Trump ins Weiße Haus zurückkehren. Diese Meinung teilen 37 Prozent der AfD-Wählenden und 62 Prozent der BSW-Anhängerschaft. Repinski warnt allerdings, dass Trump dennoch Einfluss auf den politischen Diskurs nehmen werde, sollte er die Wahl gewinnen. Auch wenn nur elf Prozent der Befragten seine Wiederkehr gutheißen würden.
Dennoch sieht Leonard den Trend, dass sich die rechtsextremen Parteien in Europa von Trump eher distanzieren. Zudem betont er, dass Europa jetzt seine Verteidigung und Sicherheitspolitik stärken müsse – egal, wie die US-Wahl ausgehe.
Wenn es um den wachsenden Zulauf der AfD in Deutschland geht, steht Leonard einem Parteiverbot kritisch gegenüber. Laut ihm würde das noch mehr Öl ins Feuer gießen und die Leute erst recht mobilisieren. Was helfe, seien öffentliche Proteste, wie man es in den vergangenen Monaten in Deutschland gesehen habe.
Derzeit prüft der Verfassungsschutz, ob die AfD als "gesichert rechtsextrem" eingestuft werden sollte. Dabei entflammt auch immer wieder eine Debatte um ein AfD-Verbot.
Allgemein stehen laut Repinski die Türen für einen Rechtsruck bei der EU-Wahl weit offen. Ihm zufolge spielt die miese Wirtschaftslage eine Rolle. Aber auch die Migration, weil sich hier ein Gefühl breit mache, dass sich nicht zum Besseren verändere.
Viele AfD-Wählende meinen, Einwanderung sei für Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eines der wichtigsten Ziele.Bild: dpa / Kay Nietfeld
Die ECFR-Umfrage zeigt, dass 57 Prozent der AfD-Wähler:innen annehmen, dass es für Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine Top-Priorität sei, Deutschland für Migrant:innen und Geflüchtete zu öffnen. Das sehen die Wählenden der SPD und Grünen anderes. Laut ihrer Ansicht sei das für Scholz zwar ein wichtiges Thema, es nehme aber keinen Vorrang ein.
Co-Autor des ECFR-Berichts Leonard zieht das Fazit:
"Es ist ein Irrtum zu glauben, man könne die Rechtsaußenparteien am besten besiegen, indem man ihre Migrationspolitik imitiert. Unsere Umfragen zeigen, dass die Zuwanderung für die meisten Wahlberechtigten in den meisten Ländern nicht das wichtigste Thema ist und dass das simple Kopieren rechtsextremer Politik die etablierten Parteien unauthentisch erscheinen lässt."
Die bessere Alternative sei, sich auf die Schwächen der euroskeptischen Parteien zu konzentrieren und geopolitische Argumente für Europa in Zeiten von Trump zu liefern.