Demonstrierende in den Krakau wollen auf die Situation vieler Frauen und Kinder in der Ukraine aufmerksam machen.Bild: www.imago-images.de / imago images
Nah dran
Freiwillig und ehrenamtlich hat sich die Psychologin Anna Maruzhenko dafür gemeldet, Opfer von russischen Vergewaltigungen zu betreuen. Auch sie leidet unter den schrecklichen Berichten.
22.06.2022, 19:5728.06.2022, 23:01
Ekaterina Bodyagina
Triggerwarnung: Im folgenden Text geht es um sexualisierte Gewalt im Krieg. Die Protokolle können belastend und retraumatisierend sein.
Bewohnerinnen von befreiten ukrainischen Bezirken und Städten berichten zunehmend von Vergewaltigungen durch russische Soldaten.
Es ist nicht einfach, das Ausmaß der sexualisierten Gewalt zu verstehen. Bislang hat die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft nur zwei mutmaßliche russische Vergewaltiger identifiziert. Laut der ukrainischen Anwältin Laryssa Denyssenko hat die ukrainische Polizei Ermittlungen in 20 Vergewaltigungsfällen eingeleitet.
Ehrenamtliche Psychologinnen arbeiten mit im Krieg vergewaltigten Ukrainerinnen und Ukrainern. Mit einer hat watson über ihre Erfahrungen gesprochen: Anna Maruzhenko, 34, Gestalttherapeutin und Sexologin.
Das ist ihre Geschichte:
"Die Schrecken, von denen sie mir erzählen, habe ich nur in Filmen gesehen"
Spezialgebiet: Tiefengestalttherapie
Vor dem Krieg lebte Anna Maruzhenko mit ihren Kindern im Zentrum von Kiew. Sie floh wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges nach Warschau.
Ihre psychologisches Spezialgebiet ist die Tiefengestalttherapie. Sie arbeitet vor allem in den Bereichen Krisensituationen und sexualisierte Gewalt.
Eigenen Angaben zufolge hat die Psychologin selbst Gewalt überlebt. Sie sagt, daher fällt es den Patientinnen und Patienten etwas leichter, sich ihre zu öffnen.
Vor dem Krieg habe ich hauptsächlich mit sexualisierter Gewalt gearbeitet, die Patientinnen und Patienten als Kinder erlebt haben. Diese Menschen kommen normalerweise als Erwachsene zu mir.
Oft handelt es sich dabei um recht gewalttätige Fälle. Aber die Schrecken, von denen mir die Menschen jetzt erzählen, habe ich nur in Filmen gesehen.
Im Kontext des Krieges ist die Tiefentherapie einer etwas oberflächlicheren Unterstützung gewichen. Die Sitzungen beginnen nun mit Fragen: Wo sind Sie, wie geht es Ihren Angehörigen, sind alle in Sicherheit? Das Wichtigste ist, sich auf die Ressourcen, auf das Überleben zu konzentrieren.
Wir versuchen, Schlaf- und Essgewohnheiten zu etablieren. Ein wichtiger Unterschied zwischen Kriegszeiten und einem friedlichen Leben besteht darin, dass es nicht möglich ist, zu einer Routine zurückzukehren, die einen sicheren Rahmen für das Leben mit dem Trauma schafft.
Die Menschen ziehen weg, wechseln ihren Wohnort, wechseln ihr soziales Umfeld – das ist ein belastender Kontext und erschwert es, sich in das Trauma selbst zu vertiefen.
Einige der Leichen von Butscha wurden gefesselt und geknebelt aufgefunden.Bild: www.imago-images.de / imago images
Fast niemand, der zu mir oder zu meinen Kolleginnen und Kollegen kommt, sagt: "Ich wurde vergewaltigt". Oft werden die Erinnerungen an die Vergewaltigung selbst verdrängt und tauchen auf, wenn wir uns mit anderen Problemen beschäftigen.
Kürzlich haben sich zwei Opfer sexualisierter Gewalt aus Butscha und Irpin an mich gewandt – sie sind bisher die einzigen, die sich speziell wegen des Krieges geoutet haben. Sie wollen nicht, dass ich Einzelheiten nenne – sie haben Angst, dass sie enttarnt werden und sie danach kein Privatleben mehr aufbauen können.
Das ukrainische Militär fand sie und erkannte an den blauen Flecken und der zerrissenen Kleidung, dass sie vergewaltigt worden waren. Sie gaben ihnen mein Kontakt. Die Mädchen hatten den Mut, mit mir Kontakt aufzunehmen: Mit einer korrespondiere ich, sie ist nicht bereit, ihr Gesicht zu zeigen, und mit der anderen kommuniziere ich per Video.
"Ich weine, wenn ich Geschichten von Menschen höre, die sich umeinander kümmern, die Tiere, Verwandte und Fremde retten."
Sie wurden gefoltert. In solch schwierigen Fällen wäre es natürlich besser, persönlich zu kommunizieren, aber in Kriegszeiten ist das nicht immer möglich. Ich arbeite nicht mit Teenagern und Kindern – da in solchen Fällen persönlicher Kontakt notwendig ist und ich in Polen bin. Es hilft mir, dass ich jetzt nicht in der Ukraine bin – es hilft mir, mich von den Geschehnissen zu distanzieren und die Mittel zu finden, um den Menschen zu helfen.
Wenn es schwierig wird, hilft eine persönliche Therapie – ich habe mich für kostenlose Gesprächsgruppen mit Kolleginnen und Kollegen aus Israel, Polen und Frankreich angemeldet. Während ich früher einmal pro Woche an solchen Gruppen teilnahm, brauche ich jetzt fast jeden Tag ihre Unterstützung.
Aber im Allgemeinen kann ich damit umgehen – mein eigenes Trauma ist ziemlich gut verarbeitet. Wenn ich mit dramatischen Erlebnissen konfrontiert werde, versuche ich, mich zusammenzureißen und nicht durchzudrehen. Das Spektrum der positiven Emotionen ist bei mir viel breiter.
Ich weine, wenn ich Geschichten von Menschen höre, die sich umeinander kümmern, die Tiere, Verwandte und Fremde retten.
Die ukrainischen Behörden begannen, neue Friedhöfe zu erschließen. Wie hier in Butscha.Bild: www.imago-images.de / imago images
Viele Opfer sexualisierter Gewalt wenden sich nicht an Psychologinnen und Psychologen. Sie empfinden Schuldgefühle und Hass auf sich selbst und ihren Körper. Diese Gefühle sind mir vertraut – ich selbst habe all diese Phasen der Selbstakzeptanz nach einer Vergewaltigung durchlaufen. Auf diese Weise beginne ich manchmal Gespräche mit meinen Kunden – wahrscheinlich konnten die Mädchen aus Butscha und Irpin deshalb einen Dialog mit mir beginnen.
Die ukrainischen Streitkräfte wandten sich auch an mich wegen Fällen im Oblast Cherson – angeblich wurden dort sieben Mädchen festgehalten, um dem russischen Militär zu "dienen". Aber bisher hat mich noch keine von ihnen angerufen und mein beruflicher Instinkt sagt mir, dass sie es auch nicht tun werden.
Es ist sehr schwierig, solche Dinge mitzuteilen, nicht jeder traut sich das. Manchmal haben mich die ukrainischen Streitkräfte gebeten, von den Opfern diskret herauszufinden, wie der Vergewaltiger aussah: bestimmte Zeichen, um ihn zu finden. Aber ich bin der Meinung, dass ein Überlebender von Gewalt und Missbrauch nicht gezwungen werden sollte, sich an den Angreifer zu erinnern.
Jeder sollte die Möglichkeit haben, es so zu erleben, wie er oder sie es für richtig hält – und so viel Zeit zu bekommen, wie er oder sie dafür braucht.
"In diesem Krieg gibt es viele Gruppenvergewaltigungen. Einige haben Angst, dass sie selbst Opfer von Gewalt werden, wenn sie nicht mitmachen."
Das Niveau der Brutalität des russischen Militärs ist sehr hoch. In diesem Krieg gibt es viele Gruppenvergewaltigungen, von Einzelvergewaltigungen habe ich noch nicht gehört. Natürlich ist hier eine Gruppendynamik am Werk: Einige haben Angst, dass sie selbst Opfer von Gewalt werden, wenn sie nicht mitmachen und wie ihre Kameraden zu Vergewaltigern werden.
Leider hat es in der Welt schon genug Kriege gegeben und wir können schon erahnen, zu welchem Traumata dieser führen wird. Die Gesellschaft wird sich in einem Dreieck aus Opfern, Angreifern und Rettern befinden. Im Krieg ist Gewalt und Aggression gegen die Invasoren akzeptiert, sie wird aber danach nicht einfach verschwinden. Zum Beispiel könnte die häusliche Gewalt zunehmen.
Ich verstehe auch, dass es eine große Anzahl von Menschen mit einem Zeugentrauma geben wird. Manchmal empfindet eine solche Person sogar mehr Angst als das Opfer selbst – sie kann abschalten und der Beobachter fühlt sich für das Opfer, für die Sicherheit seiner Angehörigen und für sein eigenes Leben verantwortlich. Danach kann der Beobachter Probleme beim Sex haben.
Ein weiteres großes Thema ist die Generation der Kriegskinder, die alle auf die eine oder andere Weise betroffen sind. Meine israelischen Kolleginnen und Kollegen sagen oft, dass man Erwachsene nicht vor den Folgen bewahren kann, aber mit Kindern kann man arbeiten. Wir müssen sie über die Grenzen des Körpers, über die Grenzen der Verantwortung aufklären – unsere Grenzen werden jetzt in jeder Hinsicht verletzt.
Aber ich versuche auch, über die positiven Aspekte zu sprechen: die Mobilisierung und das persönliche Wachstum jedes Einzelnen. Der Grad der Solidarität zwischen den Bürgerinnen und Bürgern wird noch lange Zeit hoch bleiben.
Hinweis zur Transparenz
In der ursprünglichen Fassung dieses Textes hatte watson die Aussagen der Psychoanalytikerin Aleksandra Kvitko veröffentlicht. Weil sich nun die Hinweise häufen, dass sich unter ihren Äußerungen auch Falschaussagen befinden könnten, hat watson das Protokoll von Kvitko entfernt.