Einmal pro Woche fährt ein Konvoi von Niger nach Libyen. Das Schmuggler-Geschäft boomt wieder. Bild: ulf laessing, bearbeitet von watson
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25.05.2024, 15:0127.05.2024, 12:50
Es herrscht eine gute Stimmung, wie zu Beginn eines großen Abenteuers. Am späten Nachmittag versammeln sich viele junge Leute in Agadez im Norden Nigers. An Verkaufsständen statten sich die Reisenden noch mit Wasser, Cola oder einer Sonnenbrille aus.
Dann springen sie auf die zahlreichen Kleinlastwagen, die sie zur libyschen Grenze bringen. Das nigrische Militär eskortiert den Konvoi. Von dieser Szene berichtet Sahel-Experte Ulf Laessing.
Sahel-Experte Ulf Laessing war vor Ort in Agadez in Niger und beobachte den Konvoi Richtung Libyen.bild: Ulf Laessing
Von Libyen aus geht es dann oftmals weiter. Ziel der Reise ist für viele das Mittelmeer – und dann Europa.
"Das Schmuggler-Geschäft blüht und die Libyen-Route ist wieder offen", sagt Laessing. Er leitet das Regionalprogramm Sahel für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung und war selbst vor Ort in Agadez.
Mit watson teilt er seine Eindrücke und stellt den Kontakt zu einem aktiven Schmuggler her.
Niger öffnet wieder Migrationsroute nach Libyen
Laut Laessing organisiert der nigrische Staat einmal pro Woche einen Konvoi von Autos von Agadaz nach Sabha, der ersten Stadt in Süd-Libyen. "Jeder Fahrer muss Steuern bezahlen und die Migranten registrieren. Die Schmuggler arbeiten jetzt also völlig legal", sagt er.
Das heißt: Das Sahelland hat die zentrale Migrationsroute nach Libyen zur Mittelmeerküste wieder aufgemacht.
Diese hatte Niger seit 2015 auf Druck der Europäischen Union (EU) weitgehend geschlossen gehalten. Doch seit die Welt vor allem auf die Ukraine und auf Nahost blickt, verändert sich vieles auf dem afrikanischen Kontinent – zu Gunsten Russlands.
2023 fand ein Militärputsch in Niger statt. Heute orientiere sich Nigers Militärregierung an neuen Partnern wie Russland, China, Iran und setze nicht mehr auf die EU, meint Laessing. Auch mit den USA habe das Land gebrochen.
Laessing zufolge fällt es Europa und Deutschland schwer, sich auf die neuen Realitäten einzustellen.
EU gerät unter Druck: Öffnung der Libyen-Route
Vor allem in Westafrika zeichnet sich ein düsteres Bild für die EU ab: Ob Mali, Burkina Faso oder Nigeria – sie alle wenden sich vom Westen ab und Russland zu. Auch Niger kehrt Europa den Rücken, "weil die EU nach dem Putsch auf Druck Frankreichs die Junta ignoriert und die Entwicklungszusammenarbeit suspendierte", sagt Laessing.
Zum Hintergrund: Die Milliardenhilfen waren Teil einer 2015 geschlossenen Vereinbarung mit der EU, die Agadez-Libyen-Route offiziell zu schließen. Mit dem Putsch wurden die Hilfsgelder jedoch eingestellt und Europa zeigte der Junta die kalte Schulter. "Daraufhin öffnete Niger die Route erneut – sicherlich auch um die EU unter Druck zu setzen, wieder mit Niger ins Gespräch zu kommen", erklärt Laessing.
Denn: Die Schließung der Libyen-Route machte in Agadez Tausende Menschen arbeitslos, "nicht nur Schmuggler, sondern auch Fahrer, Besitzer von Unterkünften und Händler, die Lebensmittel für Reisende besorgt haben", führt der Experte aus.
Früher lebten die Menschen in Agadez vom Tourismus, doch dieser brach wegen Unsicherheit ein. Daher entwickelte sich der Transitverkehr mit Migrant:innen zum Hauptwirtschaftszweig.
In Niger sind viele Menschen im Kampf gegen Hunger und Armut auf Hilfe angewiesen.Bild: imago images / Florian Gaertner
"Mit dem Wiedereröffnen hat die Junta viele Pluspunkte in Agadez gesammelt, was ihr eigentliches Überleben mitsichert", sagt Laessing. Auch das spielte laut ihm eine Rolle bei der Entscheidung, die Route zu öffnen.
Ein gutes Geschäft als aktiver Schmuggler macht Amadou*. Für watson stellt Laessing den Kontakt zu ihm her.
Migration: Was ein aktiver Schmuggler in Niger verdient
Für eine Person, die Amadou von Agadez nach Libyen fährt, kassiert er etwa 120.000 CFA. Das sind umgerechnet rund 180 Euro. "Es kommen aber noch viele Extrakosten dazu, wie etwa Polizei- und Armeeposten. Die kassieren auch ab", sagt Amadou auf watson-Anfrage.
"Was auf libyscher Seite passiert, wissen wir nicht."
Schmuggler in Niger
Zu seinen Kund:innen gehören überwiegend junge Männer, die meisten stammen aus Niger, Nigeria, Mali oder den westafrikanischen Küstenstaaten. Einige suchen Arbeit in Libyen und kommen zurück; andere gehen weiter nach Europa, erklärt Amadou.
Er bestätigt, dass jede Woche ein Konvoi Agadez verlässt. Mitte Mai sei einer ausgefallen, wegen eines Anschlags auf einen Armeeposten. "In den vergangenen Wochen waren es etwas weniger Migranten wegen der bald beginnenden Regensaison, aber wir gehen davon aus, dass die Abfahrten bald wieder zunehmen", sagt der Schmuggler.
Seit dem Anschlag gebe es zwar eine gewisse Unsicherheit, die Fahrt sei aber einigermaßen sicher. "Was auf libyscher Seite passiert, wissen wir nicht", sagt der Schmuggler. Die Fahrt gehe offiziell vom Busbahnhof Agadez bis nach Sabha. "Die Armee eskortiert uns bis Dirkou, die letzte Stadt vor der Libyen-Grenze", meint er.
Schmuggler wie Amadou, die Fahrten nach Libyen anbieten, stehen dazu in Kontakt mit "Kollegen" in Nachbarländern wie der Elfenbeinküste oder Togo, um Reisende anzuwerben, fügt Laessing hinzu. "Diese werden dann von Stadt zu Stadt weitergereicht – für jede neue Stadt haben die Migranten eine Telefonnummer von einem Schmuggler, der den weiteren Transport organisiert."
Als Beispiel nennt er die Route von Gao in Nord-Mali nach Niamey und dann nach Agadez. "Jedes Mal muss der 'Fahrpreis' erneut bezahlt werden. Die Reisenden müssen häufig wiederholend als Tagelöhner ein paar Monate arbeiten oder zu Hause anrufen, um die Weiterfahrt bezahlen zu können", sagt der Sahel-Experte.
Von Agadez in Niger geht es mit dem Konvoi Richtung Libyen.bild: watson
In Libyen gehe es häufig brutal zu.
Libyen-Route: Migranten drohen oft Menschenhandel und Folter
Laut Laessing sperren Schmuggler die Migrant:innen ein, um sie zur Zwangsarbeit zu verpflichten oder zwingen sie, unter Folter zu Hause anzurufen, um Geld zu schicken. In Agadez seien die Menschen in Häusern untergebracht, sogenannten Ghettos, bis die Weiterreise geklärt und bezahlt ist.
Ein Ticket für 180 Euro ist schließlich viel Geld in Westafrika.
Migranten warten in Agadez (Niger) auf ihren Schleuser, der sie durch die Sahara nach Libyen bringt.Bild: imago images / Sebastian Backhaus
Das Durchschnitts-Jahreseinkommen von Niger liegt laut der Weltbank bei 585 Dollar, demnach kostet die Fahrt mehr als das Doppelte eines Monatseinkommens. Laessing zufolge werden Migrant:innen häufig von ihren Familien gesponsort, die etwa ihre Häuser verkaufen.
Danach gehe die Migration in Etappen weiter, es kann also mehrere Monate dauern, bis es die Migrant:innen etwa nach Italien schaffen.
Immer mehr Menschen nehmen diese gefährliche Reise auf sich.
Mittelmeerroute: Ansteigende Migrationsströme nach Europa
"Nach aktuellen UN-Schätzungen brachen von Januar bis April 2024 mehr als 160.000 Menschen mithilfe von Schmugglern aus dem Hotspot Agadez nach Algerien oder Libyen auf", sagt Laessing.
Ein Bericht der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zeigt einen deutlichen Anstieg der Migrationsströme seit Anfang des Jahres. Die Geflüchteten seien vor allem auf der Suche nach Arbeit.
Die Mehrheit seien erwachsene Männer, 13 Prozent erwachsene Frauen und sechs Prozent Kinder unter 18 Jahren. Unter ihnen befanden sich im Januar mehr als 3000 besonders gefährdete Personen, also etwa schwangere oder stillende Frauen sowie unbegleitete Kinder oder ältere Menschen.
Frauen und Kleinkinder werden auf dem Mittelmeer gerettet. Auch sie nahmen die Libyen-Route auf sich.Bild: imago images / Alexander Stein
Nach Laessings Einschätzung wird es definitiv zu mehr Migration nach Italien und damit Europa per Boot von Libyen aus kommen.
Vor allem Geflüchtete aus dem Sudan oder Arbeitssuchende aus Nigeria und Küstenstaaten wie der Elfenbeinküste ziehe es nach Libyen, um von dort per Boot nach Italien zu gelangen. "Pro Woche gelangen etwa 3000 Menschen per Konvoi von Agadez nach Libyen – das macht im Monat 12.000. Es wird also in jeden Fall mehr Druck auf der Mittelmeerroute geben", prognostiziert er.
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Migration ist ein Thema, mit dem vor allem Rechtspopulist:innen in Europa Stimmung machen. Auch der russische Machthaber Wladimir Putin nutze Migration, um seine Ziele zu erreichen, warnen Expert:innen.
Russlands langer Arm in Niger: Wie Putin Europa schaden könnte
Laessing vermute, dass der Kreml Niger ermunterte, die Route wieder aufzumachen, um Europa zu schaden. "Moskau setzt Migration als Waffe ein, um Europa zu schaden und um mit Russland verbündeten, rechtsextremen Parteien Auftrieb zu geben", führt er aus.
Dies könne man an der Grenze Russlands zu Finnland und Belarus zu Polen gut beobachten. "Niger ist mit der Transitroute nach Libyen und damit Italien sicher ein Baustein in dieser Strategie Moskaus", meint der Experte.
Seit dem Putsch baut Russland mit Niger die Zusammenarbeit aus; im Dezember schlossen beide Länder ein Militärabkommen. "Niger verkündete das Wiederöffnen der Route gleichzeitig mit dem Militärabkommen mit Russland", sagt Laessing.
Transparenzhinweis: Amadou* möchte anonym bleiben und heißt in Wirklichkeit anders. Sein Name ist der Redaktion bekannt.