Rückzug auf Raten: Nach beispiellosem Druck seiner Konservativen Partei ist der britische Premierminister Boris Johnson vom Parteivorsitz zurückgetreten, bleibt aber vorerst Regierungschef. Er werde weitermachen, bis seine Partei einen Nachfolger gewählt habe, sagte Johnson am Donnerstag in London. Er selbst wurde vor knapp drei Jahren von seinen Tories ins Amt gewählt. Allerdings forderten viele Parteifreunde, der 58-Jährige solle sofort auch als Regierungschef abtreten. Die Opposition verlangt eine Neuwahl.
Vor seinem Amtssitz in der Downing Street 10 wandte sich Johnson gewohnt selbstsicher an die britische Bevölkerung: "Ich möchte, dass Sie wissen, wie traurig ich bin, den besten Job der Welt aufzugeben." Als er an ein Redepult trat, waren von außerhalb der Downing Street Buhrufe zu hören, Mitarbeiter spendeten hingegen Applaus.
Reue zeigte Johnson nicht. Stattdessen kritisierte er in seiner gut sechsminütigen Stellungnahme die Rücktrittsforderungen seiner Partei als "exzentrisch". "Es ist nun eindeutig der Wille der konservativen Parlamentsfraktion, dass es einen neuen Parteichef geben soll und damit auch einen neuen Premierminister", sagte Johnson. Er habe zugestimmt, dass der Auswahlprozess für einen neuen Parteichef nun beginnen solle.
Der Druck auf den britischen Premierminister Boris Johnson hatte sich in den vergangenen Wochen immens verstärkt und sich nun zugespitzt.
Nach einer ganzen Reihe von Skandalen waren seit Dienstagabend mehr als 50 Minister und andere Regierungsvertreter aus Protest gegen Johnson zurückgetreten.
Doch der geschwächte Premier lehnte noch am Mittwoch einen Amtsverzicht weiter ab. Er entließ vielmehr seinen Wohnungsbauminister Michael Gove, der ihn Medienberichten zufolge ebenfalls zum Rücktritt aufgefordert hatte. "Er hat Michael Gove gefeuert", sagte James Duddridge, ein enger Mitarbeiter Johnsons, dem Sender "Sky News". "Der Premierminister ist in bester Laune und wird weiter kämpfen", hieß es noch am Tag vor seinem Rücktritt.
Boris Johnsons Lage gestaltete sich zunehmend aussichtslos. Selbst der erst berufene neue Finanzminister Nadhim Zahawi stellte sich am Donnerstagvormittag erneut öffentlich gegen den Premier: "Premierminister, in Ihrem Herzen wissen sie, was das Richtige ist. Gehen Sie jetzt", schrieb Zahawi am Donnerstag in einem auf Twitter veröffentlichten Brief an Johnson.
Der Tory-Politiker hatte erst vor einem Monat eine Misstrauensabstimmung in seiner Fraktion knapp überstanden. Für eine weitere Misstrauensabstimmung wäre eine Änderung der parteiinternen Regeln notwendig gewesen. Erwartet wurde zunächst, dass es Johnson darauf ankommen lassen würde. Doch am Donnerstag wurde der Druck offenbar zu groß.
Oppositionschef Keir Starmer von der Labour-Partei begrüßte den erwarteten Rücktritt Johnsons. Das seien "gute Neuigkeiten", sagte Starmer der britischen Nachrichtenagentur PA zufolge. Er fügte hinzu: "Aber es hätte schon vor langer Zeit passieren sollen."
Johnson und seine Regierung waren in den vergangenen Monaten durch zahlreiche Skandale massiv in die Kritik geraten. Neben einer Spendenaffäre wogen Skandale um sexuelle Übergriffe durch Parteikollegen und um Partys am Regierungssitz während des Corona-Lockdowns besonders schwer.
Ausgelöst wurde die jüngste Regierungskrise in Westminster durch eine Affäre um Johnsons Parteikollegen Chris Pincher, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird. Zuvor war herausgekommen, dass Johnson von den Anschuldigungen gegen Pincher wusste, bevor er ihn in ein wichtiges Fraktionsamt hievte. Das hatte sein Sprecher zuvor jedoch mehrmals abgestritten.
(ast / dpa)