Niederlande-Wahl: Expertin über Jetten, Wilders und das AfD-Problem in Deutschland
In den Niederlanden wird noch ausgezählt, nur wenige tausend Stimmen trennen die Spitzenkandidaten voneinander. Ob der liberale Rob Jetten am Ende wirklich vor dem rechtspopulistischen Geert Wilders liegt oder die Reihenfolge noch kippt, entscheidet sich erst im Laufe des Donnerstags. Doch das politische Signal ist längst da: Die Mitte ist erstarkt, Wilders verliert deutlich.
Dass Jetten und seine sozialliberale D66 in einem polarisierten Klima fast gleichauf mit Wilders PVV liegt oder ihn sogar knapp überrunden könnte, ist die eigentliche Überraschung dieser Wahl.
Expertin Corine van Zuthem-Maasdam vom Zentrum für Niederlande-Studien beobachtete den Bruch im Trend schon vor dem Urnengang: "Auf einmal sah man diesen großen Sprung auch von den Progressivliberalen", erklärt sie gegenüber watson.
Ein Land, das monatelang von zornigen Schlagabtausch-Bildern geprägt war, reagierte am Ende auf genau das Gegenteil. Das ist laut Expertin auch ein starkes Signal für Europa. Und: Deutschlands Politiker:innen können daraus durchaus etwas für den Umgang mit der AfD mitnehmen.
Niederlande-Wahl: Rob Jetten punktete mit nahbarer Art im TV
Doch woher kam der überraschende Erfolg? Der liberale Jetten hat in den Niederlanden zuletzt viel richtig gemacht – und manches schlicht im richtigen Moment ausgespielt bekommen. Ein Wendepunkt war nach Meinung der Expertin sein Auftritt in einer beliebten niederländischen Quizshow, der ihm ungeplant Reichweite verschaffte. "Er hat bei 'De slimste Mens' (Der klügste Mensch) mitgemacht und es bis ins Finale geschafft, also war er ständig im Fernsehen zu sehen", sagt van Zuthem-Maasdam.
Damit war er ein Kandidat, der Smartness und Leichtigkeit zur besten Sendezeit zeigte – und dabei nicht wie ein Parteifunktionär wirkte: "Er ist jung, er ist dynamisch, er ist auch sehr positiv. Und das haben wir die letzten zwei Jahre überhaupt nicht miterlebt", erklärt die Expertin. Seine Ausstrahlung sei auch dadurch befeuert worden, dass Jetten verliebt sei und man ihm das auch deutlich ansehe, wie van Zuthem-Maasdam erklärt. "Er wird bald einen argentinischen Mann heiraten, jeder wusste das."
Dazu kam professionelle Kampagnen-Power: "Jetten hat […] am meisten Geld ausgegeben für seine Medienkampagne. 1,8 Millionen." Der Politiker sei überall zu sehen gewesen. Diese Sichtbarkeit habe sich ausgezahlt.
Wilders’ Dilemma: laut, aber regierungsunfähig
Der rechtspopulistische Wilders hingegen habe seine Glaubwürdigkeit durch den Austritt aus der Regierung verspielt. "Das letzte Mal hat sich die Tür für ihn geöffnet, er konnte auf einmal mitregieren." Das hat sich geändert. Nach seinem Ausstieg aus der Regierung im Streit über die Asylpolitik hat kaum eine Partei Interesse an einer Wiederholung. "Mit dir werden wir nicht aufs Neue in eine Regierung gehen" – so fasst van Zuthem-Maasdam die Stimmung zusammen.
Das habe ihn wertvolle Stimmen gekostet. Ein Teil seiner ehemaligen Wähler:innen wechselte zu anderen rechten Kräften wie JA21 und Forum voor Democratie.
Bei Wähler:innen sei der Eindruck entstanden: "Wenn ich den jetzt wähle, selbst wenn ich seine Themen gut finde, wird er nicht regieren." Diese nüchterne Erwartung bei Teilen der Wählerschaft war politisch wirksamer als jede moralische Abgrenzung. Wer kein Angebot zur Regierungsbildung darstellt, verliert den Charakter einer realen Option.
Umso wichtiger ist es aus Sicht der Expertin, dass auch die demokratischen Parteien in Deutschland die Brandmauer zur in weiten Teilen rechtsextremen AfD ernst nehmen.
Was Deutschland von der Niederlande-Wahl lernen kann
Die Parallele liegt auf der Hand: In Deutschland wird seit Monaten darüber diskutiert, wie stabil diese Brandmauer tatsächlich ist. Immer wieder gibt es Stimmen, die auf funktionierende Kooperation in Kommunen verweisen. Die niederländische Erfahrung deutet auf das Gegenteil. Es war eine leise und dennoch klare Linie, die Wirkung zeigte: Die PVV war keine Regierungsoption. Punkt.
Für die AfD-Debatte bedeutet das dennoch keine Beruhigung. Im Gegenteil: Der Befund aus Den Haag legt nahe, dass autoritär-populistische Parteien nicht einfach "verglühen", nur weil sie keine Mehrheiten finden. Wilders blieb präsent, noch immer ist die Partei stark. Auch dort, wo er bereits einmal Verantwortung getragen hatte.
Trotzdem entstand ein Moment, in dem ein Teil der Wähler:innen spürte, dass seine Agenda zwar den Ton setzen kann, aber nicht für die Regierung reicht. Van Zuthem-Maasdam formuliert es knapp: "Man sieht, dass die Mitte-Parteien eher radikale Themen, etwa im Bereich der Migration, übernommen haben."
Sowohl die AfD in Deutschland als auch die PVV in den Niederlanden torpedieren die demokratischen Prinzipien, sie setzen auf Spaltung und Angst.
Genau darin liegt für Deutschland eine Warnung: Wer die Rhetorik der Rechtspopulisten übernimmt, macht sie nicht schwächer, sondern größer. Das Thema Migration spielte in den Niederlanden eine zentrale Rolle. Auch deshalb, weil sich darüber identitär mobilisieren lässt. Gleichzeitig sagt die Forscherin: "Diese Migrationsthemen sind sowas von aufgebauscht. Es gibt so viele andere Themen, die wichtiger sind."
Ihre Einschätzung verweist auf ein strategisches Missverständnis, das sich in Deutschland seit Jahren wiederholt: Politische Kräfte, die ihre Agenda ausschließlich über Abwehr definieren, verlieren Gestaltungskraft.
Jetten und seine Partei machten genau das: Sie strahlten Positivität aus und setzen auf Themen wie Bildung, Innovation, Modernisierung. Die Expertin hofft nun, dass die neue Regierung Geld in Bildung investiert. Denn dieser Bereich sei sehr marode geworden, obwohl der Bereich ein wesentlicher Bestandteil der Zukunft ist. "Parteien müssen sich um Probleme kümmern, die viel wichtiger und größer sind als Migration", sagt die Expertin.
Deutschland blickt in einen ähnlichen Spiegel. Das Vertrauen in staatliche Strukturen bröckelt vielerorts. Verwaltungsverfahren ziehen sich. Wohnungsbau klemmt. In solchen Momenten entscheidet sich, ob die politische Mitte trägt.
Politische Glaubwürdigkeit entsteht nicht erst am Wahlabend, sondern in den Monaten und Jahren davor: in Behörden, Schulen, Planungsprozessen, auf dem Wohnungsmarkt.
Der niederländische Umschwung ist damit kein Triumph über Populismus und keine Blaupause. Es ist eine Erinnerung daran, dass politische Räume gefüllt sein müssen.
Doch die Wahl in den Niederlanden zeigt auch: Europa ist nicht zwangsläufig auf dem Weg in ein Jahrzehnt der Wut. Doch Zuversicht entsteht auf Dauer nur, wo politische Kräfte sichtbar Verantwortung übernehmen und Zukunft nicht nur versprechen, sondern organisieren.
