Kaum hatte Roman Porekhov von der Mobilmachung erfahren, suchte er schon nach Flügen außer Landes – je früher, desto besser.
Er war überzeugt, dass die russischen Grenzen sehr bald geschlossen würden. Die Tickets gingen schnell zur Neige. Doch der 42-Jährige konnte sich den letzten Sitzplatz für einen Direktflug nach Taschkent für den nächsten Tag sichern. Er war erst vor sechs Monaten auf einer Sightseeing-Tour in der usbekischen Hauptstadt. Er wusste also, was ihn dort erwartet.
Worauf er nicht vorbereitet war: Wie der Krieg in der Ukraine sein Leben verändern würde.
"Als Putin im Februar in die Ukraine einmarschierte, war das ein schwarzer Tag für uns", erzählt Porekhov im Gespräch mit watson. Er und seine Familie wollten Russland verlassen, aber es schien zu kompliziert – vor allem wegen der Kinder. Der jüngste Sohn ist Autist, benötigt die Routine und seine Therapie. Also blieben sie.
"Ich war immer gegen Putin und habe ihn nie gewählt", sagt der zweifache Vater. Trotzdem habe er sich nie den Protesten gegen das Regime angeschlossen. Laut Porekhov ist das Risiko zu hoch, festgenommen zu werden. "Sie würden mich foltern und anschließend auf vielfältige Weise schikanieren. Das kann ich meiner Familie nicht antun."
Seit zwanzig Jahren schaut er sich keine Politik im Fernsehen an. "Ich würde sonst kotzen", meint er. Gegen die russische Propaganda sei er längst immun, schließlich ist er viel durch die Welt gereist und hat sich mit den westlichen Werten auseinandergesetzt.
In den vergangen sieben Jahren hat Porekhov als freiberuflicher Übersetzer für die Vereinten Nationen gearbeitet. Für diesen Job lebte er auch zwei Jahre in New York. Die große, weite Welt sei ihm demnach vertraut. Das können seine Freunde nicht behaupten, die ebenfalls vor der Einberufung geflohen sind. "Sie sind zwar auch viel gereist, haben aber noch nie in einem anderen Land gelebt", sagt Porekhov.
Aber Hauptsache raus aus Russland.
Denn dort bleiben vielen Männern nur zwei Optionen: Krieg oder Knast.
Porekhov sagt dazu:
Und zwar für zehn Jahre – so lautet die Rechtslage in Russland für Kriegsverweigerer. Für Porekhov blieb nur ein Ausweg: Flucht – ohne seine Familie.
Ein Tag nach der Bekanntmachung der Teilmobilisierung stand Porekhov am Flughafen. Er fürchtete sich vor langen Schlangen und strengen Grenzkontrollen. Doch der Flughafen Moskau-Sheremetyevo war relativ leer. Aber er musste sich der Grenzpolizei stellen.
Porekhov war nervös, setzte aber ein Pokerface auf. Die Grenzbeamtin musterte ihn und stellte nur eine Frage: "Was ist der Zweck Ihrer Reise?" Er antwortete, es sei geschäftlich. Er müsse als Dolmetscher auf eine internationale Konferenz in Usbekistan.
Als Beweis zeigte er eine Einladung zu einer Konferenz in Taschkent. Eine Fälschung. Ein Freund, der als Wissenschaftler in Zentralasien gut vernetzt ist, half ihm.
Die Grenzoffiziere gruben nicht tiefer, denn Porekhov war gut vorbereitet. "Ich hatte auch Rückfahrkarten für Ende Oktober und ein österreichisches Visum." Das hat ihn wohl vor weiteren unangenehmen Fragen bewahrt. Viele, die ihre Tickets erst frisch gekauft hatten und keinen guten Reisegrund aufwiesen, wurden Porekhov zufolge in die Mangel genommen. Nachdem er die Sicherheitskontrolle überwunden hatte, gönnte er sich zwei Bier und einen Jägermeister. Für die Nerven.
In der usbekischen Hauptstadt Taschkent lebt Porekhov mit drei weiteren geflüchteten Russen in einem Hotel am Stadtrand. Seine Mitbewohner seien in vielerlei Hinsicht wie er: gut ausgebildet, gut bezahlt, anti-Putin, anti-Krieg, liberal. Porekhov vermutet, dass diese Beschreibung auf die Mehrheit der Männer zutrifft, die aus den großen russischen Städten ins Ausland flüchten.
Seiner Erfahrung nach hatte er die Kriegssymbole "Z" und "V" in Moskau nur selten als Sticker auf Autos gesehen. Beide Zeichen stehen für die Befürwortung des Krieges in der Ukraine. Die Unterstützung für Putin ist vor allem in den ländlichen Gebieten verbreitet.
Porekhov sei den zentralasiatischen Nationen, Armenien und Georgien sehr dankbar, dass sie Russen willkommen heißen, auch wenn er wisse, dass viele von ihnen erst kürzlich die Symbole "Z" oder "V" von ihrem Auto gekratzt hätten.
"Diese Russen unterstützen den Krieg, solange jemand anderes ihn für sie kämpft", sagt Porekhov. Ihm zufolge sollte mittlerweile jedem bewusst sein, dass die russische Front zusammenbricht – selbst jenen, denen der Kreml eine gründliche Gehirnwäsche verpasst hat. Der russische Präsident wusste, dass die Teilmobilmachung ein sehr unpopulärer Schachzug sein würde. Daher unternahm Putin den Schritt erst, als die Situation an der Front hoffnungslos wurde, glaubt Porekhov.
Zentralasien sei eine gute Option für Russen ohne Schengen-Visum, die aus dem Land wollen. Es sei nicht zu weit weg, der Flugpreis angemessen und die Leute nett. Ein perfekter Ort, um anzukommen und weitere Schritte zu überlegen.
Weiter sagt er:
Nun sitzt er in Usbekistan und versucht, sein Leben neu aufzubauen. Die größte Priorität sei es, seine Familie aus Russland zu holen. Doch das ist nicht so einfach. Seine Frau spricht nur Russisch. Er befürchtet, dass es ihr schwerfallen werde, sich in einem fremden Land zurechtzufinden – ganz zu schweigen von seinem autistischen Sohn. Nur um den älteren der beiden mache er sich keine Sorgen. Der würde sich schnell einleben. Kürzlich habe die Familie erst eine große Wohnung im Zentrum von Moskau gekauft und neu renoviert. Jetzt will sie sie loswerden.
Als neue Heimat könnte sich Porekhov Montenegro vorstellen. Für dieses Land benötigt er kein Einreisevisum und es ist relativ einfach, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Auf die Frage, ob er jemals zurück nach Russland möchte, sagt er:
Die Atmosphäre in Moskau ist nach Aussagen seiner Frau sehr angespannt. Der Straßenverkehr ist zurückgegangen und überall patrouilliert Polizei. Männer werden eingezogen und mit minimaler Ausbildung und Ausrüstung an die Front geschickt. Laut Porekhov werden sie in wenigen Wochen verwundet oder tot sein.
Sein nächstes Ziel ist Istanbul. Danach geht es für ihn nach Wien, um für die UNO zu arbeiten. Und dann? Er weiß es nicht. Er hofft, dass ein europäisches Land eine Art Aufenthaltserlaubnis für russische Wehrdienstverweigerer anbietet. Doch er versteht auch, dass das schwierig ist: Wer ist wirklich gegen den Krieg in der Ukraine und wer unterstützt diesen Wahnsinn insgeheim, aber flüchtet aus Angst?
Am meisten vermisst Porekhov seine Familie und Freunde. Es fühle sich seltsam an, so aus dem normalen Leben gerissen zu werden, sagt er. "Aber im Vergleich zu den anderen Optionen – Krieg, Knast oder im Keller verstecken – ist es gar nicht so schlimm."