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Militär-Experte über die Gegenoffensive: "Die Ukraine steckt in einem Dilemma"

27.03.2023, Ukraine, Bachmut: Ukrainische Soldaten der 28. Brigade gehen gemeinsam an ihrer Position an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut in der Region Donezk. Foto: Libkos/AP +++ dpa-Bildfunk ++ ...
Die ukrainischen Soldaten stehen vor wegweisenden Wochen und Monaten.Bild: AP / Libkos
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Militär-Experte Marcel Berni: "Die Ukraine steckt in einem Dilemma"

Es wird mit einer ukrainischen Gegenoffensive gerechnet. Manche meinen sogar, sie wurde bereits gestartet. Strategie-Experte Marcel Berni erklärt, wo sie stattfinden könnte und ob er eine Rückeroberung der Krim für möglich hält.
05.05.2023, 16:05
Corsin Manser / watson.ch
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Watson.ch: Die Ukrainer sprechen seit Wochen von einer Gegenoffensive. Wann wird sie stattfinden?

Marcel Berni: Das weiß ich nicht. Wir beobachten derzeit eine Art Intermezzo. Die russische Winteroffensive ist weitgehend gescheitert. Die Ukraine hat die Front größtenteils stabilisieren können, ohne einen russischen Durchbruch hinnehmen zu müssen. Mit Ausnahme der aktuell noch verfolgten russischen Angriffe in Wuhledar, Awdijiwka und Bachmut graben sich die Russen ein und legen statische Verteidigungsfortifikationen an. Die öffentlichen Ankündigungen einer ukrainischen Gegenoffensive haben also bereits Wirkung gezeigt.

Zur Person
Dr. Marcel Berni studierte von 2008 bis 2013 Geschichte, Politikwissenschaft und Ökologie an der Universität Bern. Seit 2014 forscht und lehrt er als wissenschaftlicher Assistent an der Dozentur Strategische Studien der Militärakademie an der ETH Zürich. 2019 promovierte er mit einer Arbeit über kommunistische Gefangene im Vietnamkrieg an der Universität Hamburg. Die Studie, die im Herbst 2020 in überarbeiteter Form erschienen ist, gewann den André-Corvisier-Preis für die beste militärhistorische Dissertation. Im Jahr 2022 vertrat er die Dozentur Strategische Studien in Forschung und Lehre.

Worauf wartet die Ukraine noch? Spielt das Wetter eine Rolle?

Ja. Feste und trockene Böden sind für einen schnellen, mechanisierten Vorstoß entscheidend. Bei der russischen Invasion im Februar und März 22 war der Boden matschig, weshalb der Angriff relativ schnell erlahmt ist. In den letzten Wochen hat es in der Ukraine geregnet. Das heißt, Kiew wartet derzeit auf bessere Bedingungen. Zudem hat die Ukraine realisiert, dass der künftige Kriegsverlauf von dieser Offensive abhängen wird. Ergo hat sie sich bei der Vorbereitung Zeit gelassen, um frische und unerfahrene Soldaten an neuem Material auszubilden, die Manöverkriegsführung zu schulen sowie die Kriegslogistik für eine oder mehrere größere Offensivoperationen vorzubereiten.

10.04.2023, Ukraine, Bachmut: Ein ukrainischer Soldat geht in einem Graben an der Frontlinie in Bachmut. Die russische Söldnereinheit Wagner hat nach eigenen Angaben weitere Geländegewinne in der seit ...
Ein ukrainischer Soldat in einem Schützengraben in Bachmut.Bild: AP / LIBKOS

Weiß man, wo die Ukraine Vorstöße wagen wird?

Aufgrund der aktuellen Lage sowie öffentlich verfügbaren Quellen sehe ich drei Varianten. Erstens ein direkter Stoß von Saporischschja in Richtung Melitopol und Krim. Zweitens ein Angriff im Osten, das heißt im Donbass. Und drittens ein Aufrollen der Front von Cherson aus. Auch eine Kombination der erwähnten Optionen halte ich für möglich.

Wie könnte diese aussehen?

Zum Beispiel ein erster Angriff im Süden oder Westen, mit dem operativen Ziel, einen Keil in die russische Front zu treiben. Eine solche Offensive würde für einen zweiten Schritt neue Möglichkeiten im Norden oder im Westen der Front schaffen. Deshalb gehe ich davon aus, dass die ukrainische Offensive länger dauert, als im Moment angenommen wird.

"Aufgrund des internationalen Drucks erwarte ich in den nächsten Monaten eine größere ukrainische Operation."

Könnte es auch sein, dass die Ukraine letzten Endes gar keine Gegenoffensive durchführt?

Es könnte auch argumentiert werden, dass keine ukrainische Offensive ansteht und Kiew stattdessen den Gegner meisterhaft getäuscht hat. Aufgrund des internationalen Druckes erwarte ich in den nächsten Monaten allerdings eine größere ukrainische Operation.

Im Oktober 2022 überraschte die Ukraine viele, als sie zunächst nicht wie angekündigt im Süden angriff, sondern im Osten. Werden wir auch dieses Mal eine Finte sehen?

Im Herbst kam es zu zwei Offensiven: Eine überraschende und schnelle Offensive erfolgte bei Charkiw, die zweite hatte das Ziel, Cherson zu befreien. Dabei handelte es sich um eine eher langsame Zerstörung der russischen Versorgungslinien. Derzeit versucht Kiew, eine ähnliche Dynamik wie damals auszulösen. Das heißt, mit einem Mix aus öffentlichen Ankündigungen und Angriffen hinter der Front die russische Führung zu verwirren und zu zwingen, die eigenen Kräfte entlang der gesamten Frontlinie abzustellen. Es könnte bald schon ein ukrainisches Ziel sein, wieder einen konzentrierten Angriff auf einem Flügel vorzutragen, um dann die dadurch geschaffenen Möglichkeiten an einem anderen Bereich der Front auszunützen.

Die Ukrainer haben neue Waffen aus dem Westen erhalten. Unter anderem Leopard-2-Panzer aus Deutschland. Wie groß wird der Einfluss dieser neuen Waffen auf den Kriegsverlauf sein?

Bis heute besitzt die Ukraine keine der geforderten westlichen Kampfflugzeuge. Aber die westlichen Waffen dürften den russischen Systemen in vielen Belangen überlegen sein. Ich denke da an die Bradley-Kampffahrzeuge, die Leopard-2- respektive Challenger-2-Kampfpanzer, Artilleriegeschütze sowie Raketenwerfer samt Munition. Es wird sich zeigen, ob die Ukraine diese Waffen aufeinander abgestimmt zum Einsatz bringen kann.

13.02.2023, Polen, Swietoszow: Soldaten bedienen einen Panzer des Typs �Leopard�. Die 10. Kavalleriebrigade bildet im Rahmen der milit�rischen Unterst�tzungsmission der Europ�ischen Union f�r die Ukra ...
Soldaten bei der Ausbildung am Leopard-Kampfpanzer in Polen.Bild: PAP / Maciej Kulczynski

Die Ukrainer hatten nur wenig Zeit, um sich vorzubereiten und das neue Material kennenzulernen. Ist es nicht zu früh für eine Gegenoffensive?

Die Ukraine steckt in einem Dilemma: Auf der einen Seite braucht sie Zeit, die eigenen Soldaten an neuen Waffen auszubilden und weitere Hilfe für sich zu reklamieren. Auf der anderen Seite drückt der Westen darauf, dass sie wieder in die Offensive geht und Erfolge erzielt. Nur so kann die Versorgung sichergestellt und der westlichen Kriegsmüdigkeit entgegengewirkt werden. Die strategische Herausforderung für Kiew besteht derzeit darin, beide Ansprüche unter einen Hut zu bringen.

Die Ukrainer haben zwar neues Material. Aber wie sieht es aus mit Personal? Gehen ihnen nicht langsam die Kämpfer aus?

Darüber liegen nur wenige Informationen vor. Fest steht, dass auch die Ukraine einen hohen Blutzoll hinzunehmen hat. Das Mobilisierungspotential erschöpft sich zunehmend und die Humanressourcen müssen geschont werden. Egal wie eine mögliche ukrainische Offensive endet, es wird dabei zu weiteren menschlichen und materiellen Verlusten kommen. Nach den letzten Offensiven bei Charkiw und Cherson konnte die Ukraine die Euphorie nicht ausnutzen. Statt weiter vorzustoßen, mussten die eigenen Kräfte aufgefrischt werden.

"Im Vergleich zur Ukraine ist Russland ein untergehendes Imperium, das noch immer über Reserven verfügt."

Auf der Gegenseite wirft Russland seit Monaten Tausende schlecht ausgerüstete Soldaten in den Kampf. Gemäß US-Angaben wurden seit Dezember 100.000 Personen getötet oder verletzt. Wie lang kann Russland diese Taktik noch durchziehen?

Wer hätte zu Beginn des Krieges gedacht, dass Russland bereit ist, derart hohe Verluste in Kauf zu nehmen? Im Vergleich zur Ukraine ist Russland ein untergehendes Imperium, das noch immer über Reserven verfügt. Ich kann mir vorstellen, dass Moskau dieses verlusttolerante Vorgehen weiterverfolgt – mangels Alternativen.

dpatopbilder - 26.04.2023, Ukraine, Bachmut: Rauch steigt von einem Gebäude in Bachmut in der Region Donezk auf. Foto: Libkos/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Verwüstete Gebäude in Bachmut: Im Kampf um die Stadt hat Russland Tausende Soldaten verlorenBild: AP / Libkos

Wie steht es um das Material der Russen? Haben sie noch kampffähige Panzer? Auch bei der Artilleriemunition gibt es Nachschubprobleme, wie sich Sergej Prigoschin unlängst beschwerte …

Berichte über russische Materialengpässe begleiten uns seit Längerem. Die vom Westen verhängten Sanktionen haben die russische Kriegsmaschinerie bisher nicht zum Stillstand gebracht. Vielmehr kam es zu innerrussischen Materialstreitigkeiten zwischen der Gruppe Wagner und den regulären russischen Streitkräften. Ich weiß nicht, über wie viele kampffähige Panzer Russland noch verfügt. Fest steht, dass ein großer Teil davon in der Ukraine zerstört wurde.

Wäre Russland im Moment in der Lage, um seinerseits eine Offensive durchzuführen?

Ich sehe derzeit kein Offensivpotential auf russischer Seite. Dafür wäre wohl eine weitere russische Mobilisierungswelle nötig.

Was trauen Sie den Ukrainern zu? Werden sie sich im Sommer die Krim zurückholen?

Ich glaube an die Erfolgschancen einer ukrainischen Offensive. Die Frage ist, an welchen Zielen sie einst gemessen wird. Die Rückeroberung der Krim wäre ein sehr großer ukrainischer Triumph, den ich mir im Moment noch nicht vorstellen kann.

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