Das sagt der ukrainische Cybersicherheits-Chef über russische Hackerangriffe
Sein Name ist für Deutschsprachige ein Zungenbrecher, nicht zu reden von der Dienststelle, der er vorsteht: Jurij Schtschichol leitet das Derzhspetszvyazok. Doch das soll uns nicht davon abhalten, ihm ganz genau zuzuhören.
Der Ukrainer leitet den staatlichen Dienst für besondere Kommunikation und Informationsschutz (SSSCIP). Das heißt, er ist der oberste Cybersicherheits-Chef des Landes.
In einem kürzlich vom US-Medium The Record veröffentlichten Interview spricht der Ukrainer relativ offen über die konkreten Angriffe und Bedrohungen. Daraus können auch Beobachter im Westen etwas lernen.
Ein Jahr nach Beginn der Invasion sei seine Arbeit nicht einfacher geworden. Das ist eine Untertreibung: Die russischen Hacker passen ihre Methoden ständig an und verbessern sie, während sie gleichzeitig neue Ziele suchen.
Wie sieht die Zwischenbilanz zum Cyberkrieg aus?
Dazu sagt der Ukrainer:
In der Vergangenheit hätten russische Hackergruppen unabhängig an ihren eigenen Projekten gearbeitet. Es scheine nun jedoch eine größere Abstimmung zwischen ihnen zu geben. Dies könnte darauf hinweisen, dass sie Anweisungen von der obersten Führung im Kreml erhalten.
Wie haben sich die Cyberangriffe seit Anfang 2023 verändert?
Jurij Schtschichol sagt, die Hacker hätten ihre Angriffsvektoren und Ziele geändert.
Eine weitere Veränderung sei ein Anstieg der Angriffe auf die Lieferkette des privaten Sektors, insbesondere auf Softwarehersteller. Diese Attacken seien äußerst komplex und erforderten auf Angreiferseite höheres Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, um durchgeführt zu werden.
Wenn Hacker ein privates Unternehmen infiltrieren, könne dies erhebliche Schäden für andere Institutionen verursachen, ruft Schtschichol in Erinnerung. Das sei etwa bei der NotPetya-Malware 2017 der Fall gewesen. Sie legte Hunderte Rechner in ukrainischen Regierungsbehörden, Banken, Krankenhäusern und Flughäfen lahm und verursachte weltweit einen geschätzten Schaden von 10 Milliarden Dollar.
Wie hat sich der Einsatz von russischer Malware geändert?
Russische Hacker hätten sich früher darauf konzentriert, sogenannte Wiper einzusetzen, um ukrainische IT-Systeme zu zerstören, sagt der Cyber-Sicherheitschef. Nun setzten sie hauptsächlich Spyware ein, um Informationen aus privaten Messengern, E-Mails und Geräten zu sammeln.
Wie beeinflussen russische Cyberangriffe das ukrainische Militär?
Schtschichol bestätigt, was logisch erscheint: Die ukrainische Armee sei eine Priorität für russische Hacker. So versuchten sie etwa ständig, das Gefechtsfeld-Management-System Delta anzugreifen (siehe Box unten).
Es handelt sich um ein cloudbasiertes System zum Sammeln, Verarbeiten und Anzeigen von Daten über feindliche Streitkräfte und zur Koordinierung der eigenen Truppen. Die Software entspreche NATO-Standards, sie geht aber bezüglich Funktionalität weit darüber hinaus.
Erfunden wurde Delta von Freiwilligen der Aerorozwidka-Gruppe, die sich 2014 zusammenschlossen, um die ukrainischen Streitkräfte mit innovativer Aufklärungstechnik zu unterstützen. Das System wurde 2016 in Betrieb genommen und in der Folge vom ukrainischen Verteidigungsministerium und dem Digitalministerium unter Mithilfe ausländischer Verbündeter stetig weiterentwickelt.
Laut seinen Entwicklern bietet Delta ein dreidimensionales Verständnis des Schlachtfeldes in Echtzeit und integriert Informationen über die russischen Angreifer aus verschiedenen Sensoren und Quellen, einschließlich Geheimdienstdaten, in eine digitale Karte. Es erfordere keine zusätzlichen Einstellungen und könne auf jedem Gerät funktionieren – einem Laptop, Tablet oder Smartphone.
Die Ansicht soll ähnlich sein wie bei Google Maps, und jeder ukrainische Kommandant habe Zugriff auf das System. Und Business Insider meinte: "Durch den Bruch mit der hierarchischen Führungstradition der Sowjetarmee erfahren die Militärs in Echtzeit, was zu Lande, zu Wasser, in der Luft, im Weltraum und im Cyberspace geschieht."
Wichtiges technisches Detail: Die digitale Kommunikation zwischen den verschiedenen Einheiten läuft vorrangig über Satelliten-Internet. Und da spielt bekanntlich Starlink von SpaceX eine entscheidende Rolle.
Das "Wall Street Journal" kommentiere Anfang 2023, die Ukraine habe eine preisgünstige "MacGyver"-Version dessen erreicht, wofür das Pentagon Jahrzehnte brauchte und Milliarden Dollar ausgegeben habe.
Was hat es mit der neuen ukrainischen Messenger-App auf sich?
Bekanntlich haben die meisten Soldaten ein Smartphone, um mit den Liebsten zu Hause Kontakt zu halten. Jedoch stellen gewisse Apps ein beträchtliches Sicherheitsrisiko dar.
Schtschichol sagt:
Der Cybersicherheits-Chef sagt, dass derzeit ein abhörsicherer ukrainischer Messenger getestet werde.
Die App werde zunächst von Militärs und Regierungsbeamten genutzt. Wenn sich die Technologie als zuverlässig erweise, könne man sie der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Wie ist die Zusammenarbeit mit dem Ausland?
Zur Kooperation mit dem US-Militär und mit ausländischen Geheimdiensten äußert sich der ukrainische Cybersicherheits-Chef verständlicherweise nicht.
Schtschichol sagt, seit Beginn des Krieges könne sein Land auf fortschrittliche Technologien von großen Privatunternehmen wie Microsoft, ESET und Cisco zugreifen. "Diese Technologien waren zuvor für uns nicht verfügbar."
Während unsere Partner Technologie beisteuern, liefern wir Fachwissen, das sie zuvor nicht hatten."
Wie hilft das umstrittene US-Unternehmen Palantir?
Im Februar hatte der CEO des US-amerikanischen Big-Data-Unternehmens, Alex Karp, gegenüber Reuters verlauten lassen, dass Palantir-Software der Ukraine dabei helfe, russische Panzer und Artillerie anzugreifen.
Auch hierzu gibt sich Schtschichol verschwiegen:
Was tragen ukrainische IT-Firmen bei?
Für Schtschichol ist klar:
Verstärkt die Ukraine die Hackerabwehr?
Ja. Derzeit arbeite das Verteidigungsministerium an der Einrichtung eines eigenen CERT, das Kürzel steht für Computer Emergency Response Team. Gemeint ist eine Gruppe von IT-Spezialisten, die Notfälle bewältigen kann.
Das militärische CERT werde ein bereits bestehendes ziviles IT-Sicherheits-Team (CERT-UA) ergänzen, heißt es.
Welche Rolle spielen nicht-staatliche Hacker?
Dazu der ukrainische Cybersicherheits-Chef:
Wir sammeln Beweise für alle Verbrechen, die von Russen begangen wurden, einschließlich im Cyberspace, und wir setzen uns aktiv dafür ein, dass Cyberverbrechen als Kriegsverbrechen anerkannt werden."
Schtschichol sagt, auch Hacker sollten als Kriegsverbrecher betrachtet werden, wenn sie Angriffe durchführen, die zu Todesfällen unschuldiger Zivilisten führen. "Wir erwarten, dass sie für alle Verbrechen, die sie in der Ukraine begangen haben, zur Rechenschaft gezogen werden."
Quellen
- therecord.media: Ukraine’s cyber chief on the ever-changing digital war with Russia (21. Mai 2023)
- wsj.com: Ukraine Has Digitized Its Fighting Forces on a Shoestring
- mezha.media: The unique Ukrainian situational awareness system Delta was presented at the annual NATO event (Oktober 2022)
- en.wikipedia.org: State Special Communications Service of Ukraine