Ein Ukrainer steht vor den Trümmern einer Garage in Lyssytschansk. Er sieht zu, wie sein Auto verbrennt.Bild: www.imago-images.de / imago images
International
Es ist die Angst vor dem Unbekannten. Die Angst, auf der Straße zu landen, nichts mehr zu haben. Die Heimat, das Haus, das ganze Leben – alles weg. Sie könnten schon morgen getötet werden, doch gehen wollen sie nicht. Wenn Armut und Realitätsverlust plötzlich zur Todesfalle werden.
04.07.2022, 18:5714.07.2022, 13:32
Fünf Minuten vor einem Artilleriebeschuss erzählte die Frau noch, dass sie nicht gehen will. Sie stand gelassen auf dem Gehweg gegenüber eines Zentrums für humanitäre Hilfe in Lyssytschansk – dieses Zentrum gibt es bereits nicht mehr. Zerstört. 34 Mal von russischer Artillerie getroffen.
"Ich habe woanders keine Unterkunft", sagte die Frau auf Russisch. Im Osten der Ukraine vor allem in den Regionen Luhansk und Donezk spricht der Großteil der Bevölkerung Russisch. Keine Ersparnisse, keine Verwandten außerhalb der Stadt. "Alles, was ich habe, ist hier und eine neue Wohnung kann ich mir nicht leisten", erzählte sie.
Auch nach dem Angriff blieb sie. Das war im Mai.
Am Wochenende ist die Stadt Lyssytschansk nun offenbar gefallen. Bilder von russischen Soldaten, die Sowjet-Flaggen hissen, machen die Runde. Russland vermeldete die vollständige Einnahme, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach nur von einem Rückzug der Armee. Man werde die Stadt aber nicht aufgeben.
Russische Soldaten hissen eine russische und eine Sowjet-Flagge in Lyssytschansk.Bild: www.imago-images.de / imago images
Anton Yaremchuk war bis vor wenigen Tagen noch dort – er evakuierte Menschen. Bis die weiter östlich gelegene Stadt Sjewjerodonezk eingenommen wurde, half er auch dort den Menschen bei ihrer Flucht.
Er ist in der Ukraine geboren, lebte ein halbes Jahr in Russland, zog dann aber mit seiner Mutter nach Italien. Der 32-Jährige hat einen italienischen Pass, darf die Ukraine also verlassen. Zwischenzeitlich lebte er noch in England und Deutschland. In Kiew studierte er. Er ist diplomierter Film-Kameramann.
Heute lebt er mit seiner Ehefrau in Berlin. Seit Kriegsbeginn ist Anton aber wieder in der Ukraine. Nur einmal war er zwischenzeitlich in seiner Berliner Wohnung. Ansonsten ist er vor Ort, um den Menschen zu helfen: Essen, Wasser, Medizin – und eben Flucht.
Mehr als 1000 Menschen evakuiert
Zusammen mit dem deutschen Patrick Münz von den Organisationen "Stelp" und "Leave no one Behind" und einem Freund aus Kiew hat Anton die ukrainische Nichtregierungsorganisation "Base UA" gegründet. Seit Beginn des Krieges hat die Organisation in Zusammenarbeit mit "Stelp" und "Leave no one Behind" eigenen Angaben zufolge mehr als 1000 Menschen aus dem Kriegsgebiet evakuiert.
Und es hätten deutlich mehr sein können.
Doch viele wollen nicht gehen.
Anton Yaremchuk evakuiert Menschen aus dem Kriegsgebiet.Bild: watson / Joana Rettig
Anton versuchte während seiner Evakuierungseinsätze, so viele Menschen wie möglich zum Gehen zu überreden. Oft fuhren sie Adressen an, die ihnen von Verwandten der Einwohnerinnen und Einwohner aus dem Westen der Ukraine oder aus dem Ausland zugeschickt wurden. Oder aber die Menschen wollten im ersten Moment gehen – entschieden sich aber kurzfristig doch wieder um. Dann fuhren Anton und sein Team leer zurück.
Schwierig wird es, wenn Kinder im Spiel sind.
"Letzte Woche", erzählt er, "war ich schon stark traumatisiert." Zu dieser Zeit waren Anton und sein Team in Lyssytschansk im Einsatz. "Eine Frau sitzt mit ihrer 14-jährigen Tochter seit Wochen in so einem Keller fest." Meist sind es Menschen in großen Wohngebieten mit Plattenbauten, die dann gemeinsam in den Kellern ihrer Häuser Unterschlupf, Schutz suchen.
"Ich habe angefangen zu weinen."
"Die Tochter", sagt Anton, "war wirklich krass erschüttert und hatte unfassbar Angst." Es sei klar gewesen, dass das Mädchen da rauswolle, raus aus dem Keller, raus aus der Stadt. "Aber die Frau wollte das alles gar nicht hören."
Wie reagieren, wenn ein Kind in Lebensgefahr ist, man selbst aber nicht in der Lage ist, es aus dieser Situation rauszuholen? "Ich habe einfach angefangen zu weinen", sagt Anton. Er habe versucht, der Frau zuzureden, zu erklären, dass er doch wenigstens das Kind mitnehmen wolle, um zumindest sie aus der Gefahr zu ziehen. "Ich sagte, entweder muss sie oder müssen wir das Kind rausholen."
Offenbar hat das Mädchen auch eine Verwandte in Kiew, die sie hätte aufnehmen können. Doch Anton erzählt: "Die Frau hat mir immer wieder gesagt: 'Nein, das wird nicht stattfinden'." Anton sei dann konfrontativer geworden: "Ich habe gefragt: 'Wie kann das sein? Wie kannst du sowas machen?'"
Ihre Antwort war auch für Anton irritierend: "Ich habe neun Kinder."
Anton kann nur mutmaßen, was sie damit gemeint haben könnte. "Irgendwie hat sie damit angedeutet, dass sie so viele Kinder hat, dass sie jetzt auch eine Tochter opfern kann." Klar habe sie das nicht wortwörtlich gesagt. "Aber das war schon die direkte Antwort auf meine Frage."
Auch bei dieser Frau sind es wieder dieselben Gründe wie bei vielen weiteren Zurückgebliebenen in den umkämpften Städten: Sie kann nicht gehen. Es ist doch ihr Zuhause. Sie hat keine Unterkunft. Kein Geld. Die Menschen lebten vor dem russischen Einmarsch in einer eigenen Routine. Hatten kein schlechtes Leben, aber auch keinen Luxus. "Aber jetzt alles zusammengebrochen", erzählt Anton. "Sie müssen ja von null starten. Und dafür fehlt ihnen die finanzielle Basis."
Zusätzlich dazu, sagt Anton, sei die Frau mit der 14-jährigen Tochter "auf jeden Fall deutlich pro-russisch". Sieben ihrer neun Kinder wohnten auch in Russland. Eine Tochter in Kiew, die jüngste noch bei ihr.
Er ließ sie zurück.
Misstrauen gegenüber Helfenden
Doch dass die russische Propaganda, mit der die Menschen im Osten der Ukraine schon seit 2014 konfrontiert sind, der ausschlaggebende Punkt für ihre Entscheidung ist, glaubt der Helfer nicht. "Teilweise kommt das Misstrauen uns gegenüber schon auch daher – wenn, dann handelt es sich aber dabei meist um alte Menschen, die noch in der Sowjetunion gelebt haben."
Misstrauen schlägt den Helfenden häufig entgegen. Man glaubt ihnen selten, dass es Unterkünfte gibt – und auch Essen. Anton versteht das: "Da kommen irgendwelche dahergelaufenen Typen, die sie nicht kennen. Ja gut, sie bringen Hilfsgüter – aber das ist nicht unbedingt eine Basis für Vertrauen."
Zusätzlich dazu hätten die Menschen vor allem am Anfang viele negative Geschichten gehört. Nachbarn, die sich nach einer Woche selbstständig Wohnungen suchen mussten, dass die Wohnungen überall teuer sind. Zu teuer. Außerdem, meint Anton, haben die Menschen das Gefühl, dass es überall so gefährlich ist wie bei ihnen.
Auf Spenden angewiesen
Ein Evakuierungseinsatz im ukrainischen Kriegsgebiet
kostet die Organisationen meist mehrere Tausend Euro. Benzin und Diesel sind rar und teuer, die Autos müssen instandgehalten und repariert werden. Sie liefern Essen und Trinkwasser und versorgen die Menschen auch medizinisch vor Ort.
Dafür sind sie auf Spenden angewiesen.
Einer Recherche der britischen Zeitung "The Guardian" zufolge haben zivile Hilfsorganisationen in der Ukraine aber insgesamt
nur 0,24 Prozent der gesamten Spenden erhalten.
Du willst spenden?Auf Instagram geben sowohl
"Base UA" als auch
"Leave No One Behind" Informationen dazu, wie du bei den Evakuierungen unterstützen kannst.
Neben existenziellen Ängsten gibt es aber noch einen weiteren Grund: absoluter Realitätsverlust. "Die Menschen dort sind komplett zerstört. Also alle Menschen, die da in den Kellern sitzen – egal welche Ansichten sie haben." Ob pro-russisch oder pro-ukrainisch: "Sie sind einfach nicht mehr in der Lage, die Situation einzuschätzen und wahrzunehmen, was um sie herum gerade passiert."
Die Menschen innerhalb dieser Gebiete kennen sich, unterstützen sich, leben bereits seit Wochen, wenn nicht gar Monaten zusammen in den Kellern ihrer Plattenbauten. "Da ist so eine perfide Art von Kommunismus entstanden. Sie leben in diesen Kommunen, da wird Essen hingeliefert, sie müssen nicht arbeiten, sie haben keine Verantwortung", sagt Anton.
Es ist ein vor sich hin Vegetieren. Abseits der realen Welt, wie sie noch vor der Invasion der Russen im Februar war. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Er gewöhnt sich innerhalb kürzester Zeit an neue Routinen. Und Anton sagt: "Das ist natürlich ein perfider Status quo – aber die Menschen kennen das jetzt so, sie wissen damit umzugehen."
Ein Bild, das für Menschen, die in Frieden leben, kaum vorstellbar, für die Bewohnerinnen und Bewohner des Ostens aber seit Wochen Standard ist: Kinder fahren mit ihren Fahrrädern an zerbombten Häusern vorbei, spielen vor den Trümmern ihrer alten Wohnanlage. Erwachsene gehen an Blindgängern vorbei, lassen sich sogar damit fotografieren. Dass Panzer und Militärs vorbeifahren – längst Alltag. Wenn die Menschen Artilleriegeschosse hören, die von ukrainischer Seite nach draußen geschossen werden, zucken sie meist nicht einmal mal mehr.
"Sie schätzen die Gefahr einfach nicht realistisch ein", erzählt Anton. "Diese Bomben sind einfach schon so eine Art Routine geworden. Sie denken, sie können das überleben – doch sie haben den Bezug zum Geschehen vor Ort verloren." Manche fragten ihn sogar, ob er organisieren könne, dass es wieder Strom und Telefonverbindung gibt. "Sie kapieren überhaupt nicht, was um sie herum passiert."
Jetzt ist Lyssytschansk gefallen. Wie viele Zivilistinnen und Zivilisten tatsächlich noch vor Ort sind, ist unklar. Vergangenen Montag waren es offiziellen Angaben zufolge noch rund 7.000.
Anton und sein Team müssen jetzt abwarten. Dort, in Lyssytschansk, können sie nichts mehr tun.
Doch Russland wird nicht aufhören.
In diesem Moment rücken die Truppen immer näher an die Stadt Slowjansk vor.
Vor Ort in der Ukraine