Systematische Gewalt an Palästinensern in Israel: HRW erhebt schwere Vorwürfe
Im Sommer 2024 taucht ein Video aus dem Militärgefängnis Sde Teiman auf. Sde Teiman ist ein umstrittenes Haftlager in der Negev-Wüste. Die Überwachungskamera zeigt mehr als zwanzig palästinensische Männer, die bäuchlings gefesselt am Boden liegen. Soldaten führen einen von ihnen ab; hinter einem Sichtschutz ist später zu sehen, wie der Mann offenbar sexuell misshandelt wird.
Er wird anschließend in lebensbedrohlichem Zustand in ein Krankenhaus gebracht, mit schweren Verletzungen im Rektum und am Oberkörper. So berichteten es israelische Medien. Fünf Soldaten werden daraufhin festgenommen.
Doch die Proteste richten sich nicht gegen Folter, sondern gegen die Festnahme der Soldaten. Rechte Gruppen werfen der Armeeführung vor, "unsere Soldaten zu verraten". Die Debatte dreht sich schnell vorwiegend um die Veröffentlichung des Videos.
Dabei ist die Misshandlung wohl bei weitem kein Einzelfall. Ein aktueller Bericht zeichnet ein brutales Bild von systematischer Gewalt gegen inhaftierte Palästinenser:innen in Israel. Auch HRW und Amnesty International erheben auf watson-Anfrage schwere Vorwürfe.
Israel: Militärstaatsanwältin tritt zurück – und wird zur Zielscheibe
Yifat Tomer-Yerushalmi, Israels oberste Militärstaatsanwältin, gab in den Tagen nach Veröffentlichung ihren Rücktritt bekannt. Sie sprach von einer "Hetzkampagne" gegen sich und ihre Mitarbeitenden. Ihr werde vorgeworfen, "Terroristen gegenüber unseren eigenen Truppen zu bevorzugen".
Und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu? Der bezeichnete die Veröffentlichung des Videos als "möglicherweise den schwerwiegendsten Angriff auf die Öffentlichkeitsarbeit, den der Staat Israel seit seiner Gründung erlebt hat".
Kurz darauf wurde Tomer-Yerushalmi als vermisst gemeldet, Polizist:innen suchten sie. Ihre Familie fürchtete, sie könne sich unter dem öffentlichen Druck etwas antun. Am Ende findet die Polizei sie lebend – und nimmt sie fest. Ihr Handy bleibt verschwunden.
Seitdem diskutiert Israel darüber, ob Tomer-Yerushalmi Beweise gelöscht haben könnte. Die ursprüngliche Frage jedoch, was in Sde Teiman passiert, verschwindet aus der öffentlichen Debatte. Dabei schlagen NGOs und Menschenrechtsorganisationen Alarm.
"Bewusstes und weitverbreitetes Instrument der staatlichen Politik"
Fünf israelische Organisationen – darunter Ärzte für Menschenrechte–Israel (PHRI), HaMoked, Adalah und das Öffentliche Komitee gegen Folter in Israel (PCATI) – haben für den UN-Ausschuss gegen Folter einen Bericht zusammengestellt.
Darin heißt es: "Folter ist zu einem bewussten und weitverbreiteten Instrument der staatlichen Politik geworden." Die Organisationen beschreiben eine Eskalation seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023. Misshandlungen seien durch hochrangige Beamte gebilligt worden, während die Justiz nicht einschreite.
PHRI dokumentierte mehr als 40 Todesfälle palästinensischer Häftlinge in israelischen Gefängnissen seit Oktober 2023. Die Organisationen listen Foltermethoden auf, die laut Berichten von Gefangenen, medizinischem Personal und Prozessakten regelmäßig auftreten: Schläge, Schlafentzug, extrem kalte Räume, "Stresspositionen", konstante Beleuchtung, Drohungen mit sexueller Gewalt und gegen Familienmitglieder. Palästinenser:innen würden außerdem häufig ohne Anklage festgehalten.
Human Rights Watch berichtet von Tritten mit Stahlkappen
Human Rights Watch hat in den vergangenen Monaten insbesondere zur Behandlung von Gesundheitsfachkräften aus Gaza recherchiert, die von Israel festgenommen wurden. Gegenüber watson erklärt die Organisation, dass die eigenen Erkenntnisse mit denen israelischer und palästinensischer NGOs übereinstimmen, ebenso wie mit Berichten des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte.
HRW "hat Demütigungen, Misshandlungen und Folter dokumentiert: darunter Entkleidung und Schläge, lang anhaltende schmerzhafte Stresspositionen, fast ständiges Fesseln und Augenbinden", erklärt eine Sprecherin gegenüber watson. Einige der freigelassenen Inhaftierten berichten demnach, sie seien mit sexueller Gewalt und mit Kampfhunden bedroht worden.
Alle von HRW befragten Gesundheitsfachkräfte schilderten, dass sie direkt nach ihrer Inhaftierung geschlagen und körperlich misshandelt wurden – auch mit Fäusten, mit Tritten von Stiefeln mit Stahlkappen, mit Ohrfeigen, mit Schlägen von Gewehrkolben durch israelische Soldaten.
Dazu kommt medizinische Vernachlässigung: Trotz offensichtlicher Verletzungen und chronischer Erkrankungen seien notwendige Behandlungen verweigert oder stark verzögert worden, berichtet HRW.
Milena Ansari, Researcherin für Israel und Palästina bei HRW, erhebt schwere Vorwürfe:
Es handele sich hierbei nicht um vereinzelte Misshandlungen, sondern um ein breiteres Muster, das straffrei bleibe. Sie warnt: "Ohne Rechenschaftspflicht werden die Gewalt und die Misshandlungen nur noch zunehmen."
Sde Teiman: Ein Ort, an dem alle Linien verschwimmen
Der UN-Bericht widmet dem Lager Sde Teiman besondere Aufmerksamkeit. Es gebe "mehrere unabhängige Berichte über Häftlinge, die mit Gegenständen vergewaltigt wurden, und über Soldaten, die Wachhunde auf Häftlinge hetzten".
Dokumentiert seien Fälle extremer Mangelernährung und wochenlanger Fesselung – mit "vermeidbaren Amputationen von Gliedmaßen" als Folge. In einem sogenannten "Disco-Raum" seien Gefangene über Stunden ohrenbetäubender Musik ausgesetzt worden. Ein ehemaliger Häftling berichtet, er habe eine Woche darin verbracht.
Die Dimension lässt sich an aktuellen Zahlen ablesen: Laut Angaben der israelischen NGO HaMoked, auf die Amnesty International verweist, befinden sich aktuell 9204 Palästinenser:innen in israelischer Haft. Mehr als 4573 davon ohne Anklage oder Gerichtsverfahren. Sie sitzen unter Verwaltungshaftbestimmungen oder dem Gesetz zu "unrechtmäßigen Kombattanten".
Amnesty beschreibt diese Praxis auf Anfrage von watson als ein Element eines umfassenden Systems: Israel setze willkürliche Inhaftierung "konsequent als Mittel ein, um sein System der Apartheid gegen Palästinenser:innen aufrechtzuerhalten". Derzeit führt Amnesty weitere Interviews mit kürzlich freigelassenen Häftlingen. Die Organisation kündigt aktualisierte Ergebnisse in den kommenden Wochen an.
Israels Gewalt gegen Palästinenser: Ein System, das sich selbst schützt
Neue Informationen aus Israel und exklusive Einschätzungen von HRW zeichnen ein konsistentes Bild: Nicht das Video aus Sde Teiman ist ein Ausnahmefall. Ausnahme war, dass es überhaupt öffentlich wurde.
Die Debatte um Tomer-Yerushalmi zeigt, wie hoch der Preis sein kann, wenn jemand innerhalb des Systems Aufklärung versucht. Menschenrechtsorganisationen warnen, dass Folter längst zur Funktionsweise geworden ist. Sie wird geschützt durch politische Loyalität und blockierte Ermittlungen.
Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, sagte am 11. November 2025, die Behandlung palästinensischer Häftlinge komme "einer unmenschlichen und erniedrigenden Bestrafung gleich" und werde als "Werkzeug kollektiver Einschüchterung" genutzt. Sie forderte Israel auf, "den Zugang zu unabhängiger Überwachung und rechtlichen Schutzmechanismen wiederherzustellen".
