Die Familie der 15-jährigen Rebecca R. aus Brandenburg erlebt gerade das wohl Schlimmste, was Eltern zustoßen kann: Ihre Tochter ist seit dem 18. Februar offenbar spurlos verschwunden. Die "Initiative vermisste Kinder" sucht nach eben diesen Kindern und hilft Eltern, die dieses Schicksal erleben müssen.
Der Leiter des Vereins Lars Bruhns spricht im Interview mit watson über das medienoffensive Verhalten von Rebeccas Familie, darüber, wie die Bevölkerung helfen kann und, was bei der deutschen Polizei optimiert werden sollte.
Herr Bruhns, glauben Sie, dass Rebecca noch lebend gefunden wird?
Lars Bruhns: Das ist schwer zu beantworten. Die Polizei hat mitgeteilt, dass sie von einem Tötungsdelikt ausgeht. Das ist ein schlechtes Zeichen und man muss eher davon ausgehen, dass Rebecca nicht mehr lebend gefunden wird. Andererseits ist über den genauen Ermittlungsstand relativ wenig bekannt. Alles, was außerhalb der polizeilichen Angaben in den Medien stattfand oder von Experten analysiert wurde, bewegt sich im Bereich der Vermutung. Deshalb darf man auch in so einem Fall die Hoffnung nicht ganz aufgeben.
Wie handeln Sie als Verein, wenn ein Kind vermisst wird?
Es gibt zwei Wege. Im Vorfeld unserer Arbeit steht die Kontaktaufnahme. Unser Verein betreut auch die europaweit einheitliche Hotline für vermisste Kinder unter der Nummer 116000, die 24 Stunden täglich geschaltet und kostenfrei aus allen Netzen zu erreichen ist. Hierüber findet oftmals der Erstkontakt statt. Manchmal kommen die Eltern auf uns zu, manchmal gehen wir auch auf die Eltern zu. Das kommt darauf an, wie öffentlich so ein Fall ist und wie öffentlich auch die Eltern sind. Manchmal gehen wir auf die Polizei zu, in seltenen Fälle auch umgekehrt. Dann bieten wir einmal der Familie eine Opfer-Betreuung an, in Kooperation mit dem "Weißen Ring". Das zweite ist, dass wir die Polizei auch bei Fahndungsmaßnahmen unterstützen, wenn das gewünscht ist.
Wie können Sie der Polizei helfen?
Wir versuchen schon seit einiger Zeit klarzumachen, dass die deutsche Suche nach vermissten Kindern zu analog stattfindet. Da sind andere Länder um uns herum deutlich fortschrittlicher. Für Berlin ist – in dem Fall von Rebecca – Polen das nächste Nachbarland, dessen Polizei ein spezielles Alarmierungssystem hat. Die polnische Polizei hat eine Einheit geschaffen, die sich ausschließlich mit den Vermisstenfällen von Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Grundlage für deren Arbeit ist eine landesweite Datenbank, auf die alle Polizeidienststellen Zugriff haben.
Wie funktioniert dieses Alarmierungssystem?
Da wird bereits bei der Aufnahme der Vermisstenmeldung eine Ersteinschätzung vorgenommen, ähnlich wie bei der Notfallmedizin nach einem Unfall. Da gibt es drei Stufen: Stufe 1, es liegt keine akute Gefährdung für das Kind vor; Stufe 2, es könnte eine Gefährdung vorliegen; Stufe 3, konkrete Indizien für den Akutfall und Lebensgefahr. Auf dieser Einteilung, die im Verlauf und im Zuge weiterer Erkenntnisse variabel ist, beruht auch, in welcher Form die Polizei die Öffentlichkeit einbezieht. Das ist hier in Deutschland wiederum klar geregelt: Die Öffentlichkeit ist als letztes Fahndungsmittel einzusetzen. Auch in Rebeccas Fall ist das passiert. Das ist hierzulande zumeist ein Zeichen dafür, dass die Ermittlungen an ihre Grenzen gekommen sind.
Die Öffentlichkeit und nur ein einzelner Zeuge können der Schlüssel, ja im Zweifel gar Lebensretter sein, so sie denn rechtzeitig angesprochen werden.
Können Hinweise aus der Bevölkerung denn weiterhelfen?
Ja, je regionaler man die Bevölkerung anspricht und je schneller das geschieht, desto mehr können die Hinweise tatsächlich helfen. Da sind die Polen auch besser aufgestellt. Es gibt einen so genannten "ChildAlert" (zu deutsch: Kinderalarm). Dort sind alle großen Medienhäuser und Anbieter digitaler Dienste vertreten. In Deutschland wären dann auch t-online.de, watson.de und natürlich alle Fernsehsender, alle digitalen Medien, daran angeschlossen. Die Polizei hätte eine zentrale Schnittstelle, um unmittelbar eine Information zu einem akuten Vermisstenfall einzuspeisen – und dies ohne weitere Zwischenschritte und zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Das können die dann vom Computer aus auslösen. Das Prinzip kommt aus den USA, es wurde von Eltern angestoßen, die ebenfalls ein Kind durch eine Entführung verloren haben. Sie meinten, es müsse für solche Fälle ein Info-System wie bei Unwetterwarnungen geben. Das System wurde auch von Tschechien, den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Luxemburg und England übernommen. In Deutschland gibt es das nicht. Unser Verein versucht das schon seit Jahren umzusetzen und hat theoretisch schon ein funktionierendes Netzwerk aufgebaut. Das Ganze führt jedoch insofern nicht zum Ziel, weil wir immer in jedem Fall von Neuem bei der Polizei Vorsprache halten müssen.
Sie können das Netzwerk also gar nicht richtig nutzen?
Die eigentliche Auslösung einer Öffentlichkeitsfahndung obliegt ja in jedem Fall allein der Polizei und Bedarf im Regelfall eines richterlichen Beschlusses. Da geht aktuell schlichtweg der kritische Zeitraum für die Suche verloren. Das ist auch für mich persönlich ein frustrierender Moment, immer wieder ähnlich gelagerten Fällen begegnen zu müssen, die sich im Nachgang oftmals nicht mehr klären lassen. Obwohl die Polizeidienste unserer Nachbarländer dieses System seit vielen Jahren zum Teil erfolgreich umsetzen.
Dort kommen wir dann wieder zurück auf den Ansatz aus den 90er Jahren, die bestehenden Kanäle für die Unwetter- und Katastrophenwarnung auch im Falle akuter, womöglich lebensbedrohlicher Vermisstenfälle einzusetzen. Daran könnten andere Bundesländer im ersten Schritt sicher – ohne großen personellen oder finanziellen Aufwand – anknüpfen.
Die Familie von Rebecca ist gerade sehr präsent in den Medien. Wie stufen Sie dieses Verhalten ein?
Es ist in erster Linie ein natürliches Verhalten. Die Schwester von Rebecca ist sehr aktiv in den sozialen Medien und hat sich auf ihrem Instagram-Account mehrmals zu dem Fall geäußert. Sie hat darum gebeten, dass sich viele Leute an der Suche beteiligen mögen.
Andererseits kann das, gerade bei der Größe der Reichweite, zu Spekulationen führen, in welche Richtung es in dem Fall geht. Dabei kann es sein, dass die Polizei sich aus ermittlungstaktischen Gründen gerade nicht zu anderen Aspekten äußern kann. Das kann dann dazu führen, dass diese privaten Aufrufe auch hinderlich sein können. Die Polizei sollte Sprachrohr und Gesicht für diesen Vermisstenfall sein. Auch das wird in anderen Ländern anders gehandhabt. Auf der Webseite von "Childalert" finden sie alle gebündelten Informationen. Das macht es auch für mögliche Zeugen leichter, den Überblick zu behalten.
Es gibt Fälle, da werden Kinder nie wiedergefunden. Wie handelt ihr Verein dann?
Wir betreuen die Eltern ein Leben lang. Unseren Verein gibt es seit 1997 und es gibt auch Fälle, die seitdem offen sind. Wir betreuen aber auch Fälle, die schon davor stattfanden und die ebenfalls nie aufgeklärt wurden. Sofern das gewünscht ist, versuchen wir den Eltern weiterhin Ansprechpartner zu bleiben. Die haben aber auch oft über all die Jahre Kontakt zu den Polizeibeamten, sofern die immer noch die Ermittlungen leiten. Ich habe neulich mit einem Ermittlungsleiter gesprochen, der seit 2015 an einem Vermisstenfall dran ist. Er meinte, dass das auch für Polizei sehr frustrierend ist, weil sie eigentlich weiß, dass sich höchstwahrscheinlich nichts mehr tun wird. Es sei denn, es tauchen ganz neue Hinweise auf. Die Ermittler wollen Eltern eine Nachricht überbringen, was denn nun mit deren Kind geschehen ist.
Es gibt Fälle, wie den von Natascha Kampusch in Österreich, bei denen Vermisste nach Jahren wieder auftauchen. Kann man in Rebeccas Fall darauf hoffen?
Solche Fälle sind die große Ausnahme. Diese glücklichen Ausgänge sind genauso selten, wie die Tatsache, dass Kinder überhaupt geplant langfristig entführt werden. Meistens kommt es tragischer Weise kurz nach der Entführung gleich zu einem Tötungsdelikt. Oft geschieht das, um eine vorherige Straftat wie einen Missbrauch zu vertuschen. Was damit reinspielt, ist die Tatsache, dass Opfer und Täter meist in einer Beziehung zueinanderstehen. Das muss keine Verwandtschaft sein, vielleicht wohnt man einfach in unmittelbarer Nachbarschaft oder man kennt sich aus dem schulischen Umfeld. Dadurch entstehen Situationen, in denen das spätere Opfer gar nicht weiß, dass ihm etwas zustoßen könnte.
Generell sehen die meisten Entführungen auch nicht so aus, wie die von Natascha Kampusch. In den seltensten Fällen wird ein schreiendes Kind weggefangen und ein weißer Lieferwagen rast mit quietschenden Reifen davon. Meist läuft das verstörend ruhig ab, wie die Entführung des vierjährigen Mohammed in Berlin 2015. Der wurde von seinem späteren Mörder mit einem Teddybären weggelockt und ist Hand in Hand mit ihm weggegangen, wie es auf einer später veröffentlichten Videoüberwachung zu sehen war.
Wie sollte man mit den eigenen Kindern sprechen, um sie entsprechend zu schützen?
Auch wenn solche Ereignisse erschüttern, besteht kein Grund zu einengender Panik. Das sagen wir immer wieder. Man sollte nicht versuchen, das eigene Kind in einer Blase zu halten oder ihm keine eigenen Wege mehr zuzumuten. Der Fall von Rebecca ist eine Ausnahme.
Bei Jugendlichen, die sich zum ersten Mal nicht zurückgemeldet haben, klärt es sich oft innerhalb von ein paar Tagen. Ansonsten hilft es, Kinder selbstbewusst zu erziehen. Es gibt einige Fälle, wo Täter von potenziellen Opfern abgelassen haben, weil sich die Kinder auf der Straße offen und laut gewehrt haben. Verbale oder körperliche Gegenwehr kann im ersten Moment den Täter einschüchtern. Selbstsicheres Auftreten kann man üben, zum Beispiel durch ein Rollenspiel mit den Eltern. Auch wenn Kinder sich im Sportverein ihrer Kräfte bewusstwerden, werden sie selbstbewusster.
Auf der Webseite der "Initiative vermisste Kinder" können sich Eltern die Kinderfibel zur Prävention herunterladen.