Die Scherben der Randale von Stuttgart sind längst weggekehrt, die Aufarbeitung der Ausschreitungen hat gerade erst begonnen.
Hunderte Menschen hatten in der baden-württembergischen Landeshauptstadt randaliert und Polizisten angegriffen. Die Einsatzkräfte wurden mit Flaschen und Steinen beworfen, etliche Geschäfte beschädigt. Mindestens 19 Polizeibeamte wurden nach Angaben der Behörden verletzt und 25 Tatverdächtige festgenommen. Ausgangspunkt der Auseinandersetzungen war offenbar eine Drogenkontrolle eines 17-Jährigen.
Zwei Fragen stehen nun im Raum: Warum ist passiert, was passiert ist? Und wie lassen sich Ereignisse wie die von Nacht auf Sonntag künftig verhindern?
Politiker verschiedener Couleur scheinen sich dabei bereits einig: Hier sollen Verbrecher am Werk gewesen sein, die für den Rechtsstaat und seine Beamten nur Verachtung übrig haben und die nun die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen sollen. So äußerte sich der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne), der die Randalierer als "Kriminelle" bezeichnete, Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU), der einem "militanten Mob" mit "klaren Antworten" drohte, aber auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der am Montagnachmittag "harte Strafen" für die Täter forderte.
Watson hat über die Stuttgarter Chaos-Nacht mit dem Marburger Universitätsprofessor Ulrich Wagner gesprochen. Wagner forscht unter anderem zu Konflikten zwischen Gruppen, Aggression und Gewalt sowie deren Prävention. Wir wollten wissen, wie sich aus einer Drogenkontrolle straßenkampfartige Szenen entwickeln konnten, welche Rolle der Lockdown dabei gespielt haben könnte – und wie sinnvoll der Ruf nach einer härteren Gangart ist.
watson: Herr Wagner, wie erklären Sie sich die Ausschreitungen in Stuttgart?
Ulrich Wagner: Ganz offensichtlich ist dort eine bestimmte Gruppendynamik aufgetreten. Es gab offenbar schon in den Tagen vor dem Wochenende Treffen von jungen Menschen. Aus der Erfahrung weiß man, dass die Polizei solche Treffen aus der Distanz begleitet. Am Samstagabend fand dann eine Drogenkontrolle statt. In so einer Situation, die Stimmung ist aufgeheizt, Alkohol und möglicherweise Drogen sind im Spiel, entsteht in den Köpfen der Menschen eine Konfrontation zwischen "Hier sind wir" und "Da auf der anderen Seite ist die Polizei".
Aber wie wird eine Kontrolle einer einzelnen Person zu einem Gewaltausbruch, an dem sich mehrere Hundert Menschen beteiligen?
Die in der Situation als äußerer Feind wahrgenommene Polizei kann auch Menschen zu einer neuen Gruppe zusammenschweißen, die sich vorher gar nicht gekannt haben. Dann kann es zu einer Enthemmung kommen, bei der vielleicht zuerst wüste Beschimpfungen fallen. Dann schmeißt einer den ersten Stein und weitere Mitglieder der Gruppe ziehen mit. So werden neue Normen geschaffen.
Was bedeutet das, es werden neue Normen geschaffen?
Das bedeutet, dass eine neue Aktivität entsteht. In diesem Fall von einfachem und gesellschaftlich akzeptiertem Feiern hin zum nicht mehr akzeptiertem Leisten von Widerstand. Plötzlich scheint es in dieser Situation der Drogenkontrolle für die neue Gruppe angemessen, sich gegen ein als ungerechtfertigt wahrgenommenes Eingreifen der Polizei zu wehren. Selbstkontrolle und Hemmungen beim Einzelnen nehmen in der Gruppe schrittweise ab, bis hin zu Situationen, in denen massiv Gewalt angewendet wird.
Welche Rolle spielten hierbei Alkohol und Drogen?
Alkohol macht Menschen aggressiver, das ist wissenschaftlich klar belegt. Er begünstigt den Abbau von Hemmschwellen zur Anwendung von Gewalt in großem Maße. Bei Drogen ist es abhängig davon, welcher Stoff konsumiert wurde.
Von verschiedenen Seiten wird nun eine "Verrohung der Gesellschaft" beklagt. Werden wir alle immer gewalttätiger und gewaltbereiter?
Nein, das ist nicht der Fall. Die beste Quelle für solche Fragen, die Polizeiliche Kriminalstatistik, lässt so eine Bewertung nicht zu. Im Gegenteil, die Zahl der Gewalttaten nimmt ab.
Hat Deutschland ein Problem mit Gewalt gegen Polizei, wie es von einigen konservativen Politikern behauptet wird?
Nein, insgesamt betrachtet ist die Polizei in Deutschland eigentlich sehr hoch angesehen, das zeigen entsprechende Umfragen. Das Image der Polizei unter den Berufsgruppen ist vergleichbar hoch wie das von Ärzten, Richtern oder Professoren. Allerdings scheinen in Teilen der Bevölkerung doch Polizei und Ordnungskräfte, aber auch Rettungsdienste, zunehmend zu einem Feindbild zu werden. Dieses zunehmende Feindbild Polizei könnte hier eine der Ursachen für die Szenen von Stuttgart gewesen sein.
Welche Teile der Bevölkerung sind das?
Das lässt sich für Stuttgart im Moment nicht beantworten, aber es scheinen vorwiegend junge Menschen beteiligt gewesen zu sein. Weitere Faktoren könnten hier die Belastung durch die Coronakrise oder das Fehlen von Freizeitmöglichkeiten jenseits kommerzieller Angebote sein.
Sie halten es für möglich, dass auch die Erfahrungen des Lockdowns bei den Vorfällen eine Rolle spielten?
Ja, das ist durchaus vorstellbar. Die Menschen, gerade auch junge Leute, sind frustriert, wollen raus, etwas erleben und wollen sich nicht weiter einschränken lassen, so unvernünftig das auch sein mag. In so einer Situation nimmt die Polizei mit einer Drogenkontrolle sofort die Symbolik von Einschränkungen ein.
Was muss nun passieren, damit solche Szenen nicht nochmal vorkommen? Brauchen wir etwa härtere Strafen?
Härtere Strafen werden nicht funktionieren. Unsere Gesellschaft ist ja nicht gewaltfrei, weil wir ständig von der Polizei kontrolliert werden oder Angst vor Strafe haben, sondern weil wir – in der Regel – einen Sinn hinter einem gewaltfreien Zusammenleben sehen. Die Gewalt in unseren Gesellschaften nimmt seit wenigstens 300 Jahren immer weiter ab, weil wir uns freiwillig an bestimmte Normen halten. Besser wäre es also, sinnvoll solchen Gewaltausbrüchen vorzubeugen.
Wie kann eine solche Vorbeugung aussehen?
Die Gemeinden müssen langfristig darüber nachdenken, welche Möglichkeiten sie jungen Menschen geben können, ihren Interessen auch außerhalb kommerzieller Freizeitbeschäftigungen wie etwa Club- oder Barbesuche nachzugehen. Das heißt nicht, dass sie alles Mögliche durchgehen lassen müssen. Drogenkonsum etwa ist ein großes Problem, dass auch polizeilich verfolgt werden muss – aber behutsam. Die Erfahrung zeigt leider, dass Gemeinden oft erstmal wenig behutsam mit mehr Polizeipräsenz reagieren.
Kann mehr Polizei hier helfen?
Das kommt darauf an, welche Strategie verfolgt wird. Ein einfaches Mehr an Polizeipräsenz und eine Erhöhung des Verfolgungsdrucks wird nur zu einem Verdrängungseffekt führen. Mannschaftswagen voller Polizisten mögen beeindruckend sein, aber die jungen Menschen gehen dann eben woanders hin. Das löst aber keine Probleme. Ein dauerhaftes Normen-angemessenes Verhalten in der Bevölkerung lässt sich nicht mit Repressionen herstellen. Geeigneter scheint mir, unmittelbar der Präsenz von Teams aus Polizei, Ordnungs- und Jugendamt zu erhöhen und auf Deeskalation zu setzen, etwa mit gezielten Ansprachen oder gegebenenfalls Platzverweisen einzelner Personen. In Situationen eskalierender Gewalt gibt es manchmal einzelne Unruhestifter oder Rädelsführer. Hier besteht die Möglichkeit, diese gezielt herauszunehmen und so einer Eskalation, angestiftet von Einzelnen, behutsam vorzubeugen.
Aber ist das nicht ein Widerspruch: Einerseits scheint Polizei ein Feindbild in manchen Bevölkerungsgruppen zu sein. Anderseits soll Polizei behutsam Präsenz zeigen. Können Sie das auflösen?
Dazu müssen wir zwischen zwei Arten von Feindbildern unterscheiden: Haben wir es mit einem generellen Feindbild zu tun oder einem, das in der Situation entsteht? Letzteres lässt sich vermeiden, gerade mit deeskalierendem Auftreten. Polizei muss zum Beispiel nicht immer in Uniform erscheinen oder gleich mit hochgerüsteten Einsatztrupps vorgehen. Das erzeugt Konfrontation. Stattdessen wäre der Einsatz von Beamten zu überlegen, die in der Lage sind, auf Augenhöhe zu kommunizieren und so auf Menschen zuzugehen. Mit diesen Mechanismen lässt sich Gewaltausbrüchen meist gut vorbeugen.