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Deutschland
18.04.2019, 10:2421.05.2019, 17:16
Mein Weg führt die Straße runter, vorbei an einer alten Kirche, die wie ein gestrandetes Schiffswrack auf einer Verkehrsinsel eher liegt als steht. Gegenüber der Baustelle, hier in Berlin-Weißensee, schaue ich mir eine Wohnung für meine Mutter an.
Haus- sowie Wohnungstür stehen sperrangelweit offen, entgegen meiner Erwartung bin ich die einzige Besucherin. Trotzdem würdigt mich der Makler kaum eines Blickes. Ich setze dennoch mein charmantestes Lächeln auf, strecke zur Begrüßung die Hand aus, stelle mich vor und schiebe gleich eine Entschuldigung hinterher, dass meine Mutter so spontan leider nicht aus Essen kommen konnte, um sich die Wohnung selbst anzuschauen.
Der Makler schaut misstrauisch. Dabei habe ich ihm noch gar nicht verraten, dass meine Mutter sich die Zugfahrt hierher nicht einmal hätte leisten können. Meine Mutter lebt nämlich von Hartz IV.
Eine Wohnung als Hartz-IV-Empfänger zu finden, ist gefühlt unmöglich
Wohnungssuche an sich, vor allem in einer Großstadt, ist schon schlimm genug. Kaum eine Woche vergeht, in der man nicht den ein oder anderen Freund, Bekannten oder Arbeitskollegen über den aktuellen Mietmarkt stöhnen hört. Gut verdienende Menschen, die seit Monaten, teilweise seit einem halben Jahr oder länger, nach bezahlbarem Wohnraum suchen. Erst letztes Wochenende sind wieder mehr als 10.000 Menschen in Berlin auf die Straße gegangen, um gegen steigende Mietpreise zu protestieren.
Es sind größtenteils normal arbeitende Menschen, die Schwierigkeiten haben, eine neue Wohnung zu finden. Wie muss es dann erst für Hartz-IV-Empfänger wie meine Mutter sein? Selbst mir ist es bei der Wohnungsbesichtigung schon peinlich, zu sagen: "Also, meine Mutter lebt vom Arbeitslosengeld II – ist das ein Problem?"
"Meine Mutter bekommt Hartz IV – ist das ein Problem?"
Im selben Atemzug möchte ich gerne sämtlichen Vorurteilen widersprechen, die in so einer Situation aufploppen könnten. Ich möchte sagen: Ja, meine Mutter kann mit Geld umgehen. Ja, natürlich ist sie gepflegt. Nein, nur weil sie viel Zeit in ihrer Wohnung verbringt, lässt sie sie nicht verkommen. Und nein, selbstverständlich ist sie nicht glücklich mit ihrer Situation.
"Ich habe den Eindruck, wenn ich mich bei der Wohnungssuche nicht noch kleiner mache, als ich sowieso schon bin, glauben die, dass es mir gut geht mit Hartz IV", sagt meine Mutter am Telefon. "Man darf da nicht zu selbstbewusst auftreten. Aber mir geht es nicht gut damit, arbeitslos zu sein. Trotzdem brauche auch ich eine Wohnung."
Meine Mutter, heute 63, kam vor mehr als 30 Jahren aus Polen nach Deutschland. Eigentlich ist sie studierte Pädagogin – ihren Beruf hat sie hierzulande nie ausgeübt, weil ihr Studium damals nicht anerkannt wurde. Über Wasser gehalten hat sie sich meine ganze Kindheit über mit Jobs im Niedriglohnsektor. Putzen, Zeitungen ausliefern, Postkästen leeren. Zuletzt hat sie als Bürohilfe eines Spediteurs gearbeitet – bis das Unternehmen pleiteging.
Mit Ende 50 hat sie keine neue Vollzeitstelle mehr gefunden. Mittlerweile räumt sie auf Minijob-Basis Regale im Supermarkt ein. Naja, und Hartz IV eben.
Hartz IV hin oder her – umziehen darf man immer
Jetzt, da ich vor Kurzem nach Berlin gezogen bin, will meine Mutter gerne hinterher ziehen. Weil sie die Nase voll hat von Essen. Weil sie einen Neustart wagen will. Weil sie näher an mir dran sein mag. Im Jobcenter sagen sie ihr, ein Umzug sei kein Problem, schließlich leben wir in einem freien Land. Hartz IV hin oder her, niemand kann einen zwingen, an einem bestimmten Ort zu bleiben. Bloß die Umzugskosten kann das Amt nicht übernehmen, selbstverständlich. Aber das kriegen wir schon irgendwie hin.
Das alles interessiert den Makler natürlich nicht. Ich reiche ihm unterwürfig lächelnd die Bewerbungsmappe meiner Mutter. Weil ich Bedenken habe, dass sie aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit noch schlechtere Karten bei der Wohnungssuche hat als andere, habe ich ihr eingebleut, dass sie umso mehr Dokumente zusammentragen und mir schicken soll. Um guten Willen zu zeigen. Also reiche ich ein:
- Ein Bewerbungsblatt mit Foto und Kontaktdaten sowie Zeitangabe, ab wann ein Umzug möglich wäre.
- Eine Kopie ihres Persos.
- Den letzten Hartz-IV-Bescheid.
- Einen Kontoauszug, der beweist, dass sowohl ihr monatlicher Hartz-IV-Satz als auch der Freibetrag von 120 Euro eingegangen sind, den sie von ihrem Minijob behalten darf.
- Eine Schufa-Auskunft (keine Schulden übrigens).
- Die Bestätigung ihres Vermieters, dass ihr Hund bisher nicht negativ aufgefallen ist.
"Fehlt nur noch meine BH-Größe", sagt meine Mutter
Nachdem mir meine Mutter all diese Dokumente geschickt hatte, damit ich sie ausdrucke und zur Wohnungsbesichtigung mitnehme, schrieb sie mir: "Fehlt eigentlich nur noch meine BH-Größe."
Sich preiszugeben ist meine Mutter von ihren Terminen beim Jobcenter gewohnt
Ihren Humor hat sie behalten. Vielleicht ist sie es auch einfach nur gewohnt, ständig alles von sich preiszugeben. Das ist bei den halbjährlichen Terminen im Jobcenter schließlich nicht großartig anders – obwohl ihre Sachbearbeiterin wohl immer sehr nett zu ihr ist.
Der Unterschied ist: "Im Jobcenter sind wir alle gleich", sagt meine Mutter bei einem unserer häufigen Telefongespräche. "Da ist irgendwie klar: Alle, die hier zu einem Termin kommen, sind arbeitslos oder auf dem Weg dahin. Oder das Geld, das sie verdienen, reicht nicht zum Leben. Bei der Wohnungssuche ist das allerdings anders: Da messe ich mich mit 'normalen' Menschen. Mit meinem Hartz IV bin ich vorbelastet, das kommt bei der Wohnungssuche noch stärker zum Vorschein."
Obwohl wir gerade erst angefangen haben, nach einer Wohnung für meine Mutter zu suchen, fühle ich mich hilflos. Ich kann nicht mehr tun, als gemeinsam mit ihr die Augen offen zu halten, ihr bei den E-Mail-Anfragen zu helfen, den ein oder anderen Besichtigungstermin für sie wahrzunehmen. Und möglichst die Haltung zu bewahren, wenn ich sagen muss: "Meine Mutter ist übrigens arbeitslos – kommt sie trotzdem infrage?"
"Ich kann nur auf das Mitleid der Vermieter hoffen"
"Ich kann eigentlich nur auf das Mitleid der Vermieter hoffen", sagt meine Mutter seufzend. Mitleid war allerdings erfahrungsgemäß selten ein Grund, jemandem eine Wohnung anzubieten. Zumindest habe ich das noch nie so erlebt. Vor allem in Hinblick auf Arbeitslose hält sich das Mitgefühl meist in Grenzen, wenn man nicht selbst schon einmal so eine Situation erlebt hat.
Ich für meinen Teil hoffe nicht auf mitleidige Miethaie, sondern verständnisvolle Vermieter, die am Klischee vorbeischauen können. Darauf, dass jemand meine Mutter als stinknormale Mieterin und nicht als problembehaftete Sozialschmarotzerin erkennt. Man schauen, ob Berlin uns eine Chance gibt.